Liebe Schwestern und Brüder,

seid Ihr adventliche Menschen? Menschen in Erwartung Gottes, Menschen mit Sehnsucht im Herzen und einem Lied der Hoffnung auf den Lippen? Menschen wie Maria, die das erste Adventslied der Welt gesungen hat?
Maria, das junge Mädchen, kommt zu ihrer viel älteren Verwandten Elisabeth, sie eilt zu ihr, weil beide Frauen etwas Unbegreifliches verbindet:
Gott hat sie erwählt, sie sollen Söhne zur Welt bringen, durch die der Himmel dieser Erde nahe kommt. Johannes, der Sohn der Elisabeth und des Priesters Zacharias, wird dem Herrn den Weg bereiten und das Volk zur Buße und Umkehr rufen, Jesus der Sohn Gottes, den Maria, die Jungfrau, unter dem Herzen trägt, wird Gottes Heilswerk für die Menschen vollenden.
Als Elisabeth Marias Gruß hört, bewegt sich das Kind in ihrem Leib und sie erkennt und bekennt in der Kraft des Heiligen Geistes, mit wem Maria schwanger ist: „Gepriesen sei die Frucht deines Leibes. Wie geschieht mir das, dass die Mutter meines Herrn zu mir kommt.“  
Da stimmt Maria ihr Lied an, ihr Lied voller Leidenschaft und Kraft, prall gefüllt mit  menschlicher Sehnsucht und göttlicher Verheißung.
Maria sprach:
Meine Seele erhebt den Herrn,
und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes;
denn er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen.
Siehe, von nun an werden mich selig preisen alle Kindeskinder.
Denn er hat große Dinge an mir getan,
der da mächtig ist und dessen Name heilig ist.
Und seine Barmherzigkeit währt von Geschlecht zu Geschlecht
bei denen, die ihn fürchten.
Er übt Gewalt mit seinem Arm
und zerstreut, die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn.
Er stößt die Gewaltigen vom Thron
und erhebt die Niedrigen.
Die Hungrigen füllt er mit Gütern
und lässt die Reichen leer ausgehen.
Er gedenkt der Barmherzigkeit
und hilft seinem Diener Israel auf,
wie er geredet hat zu unsern Vätern,
Abraham und seinen Kindern in Ewigkeit. 

Schwestern und Brüder,
Maria weiß um ihre Niedrigkeit, um ihre Armut.
Das ist ganz wörtlich gemeint: Maria besitzt keine Reichtümer, sie ist eine junge Frau aus einfachen Verhältnissen. Aber wenn sich Maria in ihrem Lied mit den Armen identifiziert, dann geht es nicht nur darum, dass sie für ihren Lebensunterhalt mit den eigenen Händen mühsam sorgen muss. Sie hat auch den „Geist einer Armen“ – von dem ihr Sohn Jesus später in der Bergpredigt sprechen wird. Der Mensch, der im Geist arm ist, weiß, dass er sein Leben nicht selbst in der Hand hat, sondern auf Gott und den Mitmenschen angewiesen ist. Der evangelische Ordensgründer der Gemeinschaft von Taizé, Frère Roger, sprach davon, dass nur Armut zur „Offenheit des Herzens“ führt, zur Schlichtheit und zur Einfachheit des Vertrauens. Auf diese geistliche Armut verpflichtete er seine Gemeinschaft: Schlichtheit im Leben, Schlichtheit im Glauben, Schlichtheit in der Liebe zu den Menschen. Als Jugendlicher war ich dreimal in Taizé zu Gast und erlebte hier diesen großen Lehrer der geistlichen Armut. Seine Worte waren stets einfach, seine Gesten spärlich – aber aus ihnen strahlte eine heiße Gottesliebe und seine Hände, die er mir einmal segnend auf den Kopf legte, brannten vom inneren Feuer.

Armut führt zu Demut. Maria tritt in Demut vor Gott. Sie will seine Magd sein, sie will ihm dienen. Das deutsche Wort Demut kommt von Dien-Mut, es ist der Mut, einem anderen zu dienen. Wo Hochmut über den anderen herrschen will, sucht Demut das Wohl des Nächsten. Wo Hochmut fremde Hilfe schroff abweist, ist Demut bereit, den fremden Dienst anzunehmen.
Manche Christen glauben, sie müssten unentwegt Gutes tun: Ihre Güte kommt dann überfallartig daher, ihre Zuwendung herrschsüchtig und hinter ihrem scheinbaren Verzicht steht das selbstsüchtige Schielen nach Lob. Die britische Krimikönigin Agatha Christie hat einer solchen engagierten Helferin in einem Buch ein ironisches Denkmal gesetzt. Immer opferbereit, sei sie in der Pfarrei „der Schrecken der Armen“ gewesen. Die Demut Marias ist anders: Sie kann ohne Hintergedanken geben – und Gaben selbstlos annehmen.

Vertrauen – diese Haltung Marias gegenüber Gott prägt das ganze Lied. Gott ist ihr Heiland, der ihr nur Gutes will, der mit seiner Macht und Heiligkeit Wunder an ihr wirkt. Mit geradezu kindlicher Fröhlichkeit lässt sich Maria von Gott beschenken, legt ihr ganzes Leben in Gottes Hände. Als Vikare mussten wir im Rahmen unserer Ausbildung Vertrauensübungen machen – Ihr sicherlich auch: Einem wurden die Augen verbunden und ein zweiter musste ihn in einem Park herum führen. Solange Körperkontakt bestand, fühlten sich die meisten trotz der verbundenen Augen einigermaßen sicher, sobald aber der führende Partner ein Stück zur Seite ging und den Weg nur noch mit Worten beschrieb, stellte sich Angst und Unsicherheit ein. Schwieg der Führer schließlich auch noch, rissen sich die meisten sofort das Tuch von den Augen – sie brachten es nicht fertig, sich hinzusetzen und abzuwarten.
Ein Bild für das Christenleben: In den Zeiten, wo wir Gott und seine Gnade ganz nahe erleben, ist es leicht, sich von ihm leiten zu lassen. Scheint er aber fern oder verborgen, halten viele die Spannung nicht aus und suchen eigene Wege. Dabei wäre es gerade in der Zeit der Prüfung wichtig, mit ganzer Kraft auf Gott zu vertrauen. Er hat bessere Wege für uns, als wir selbst sie finden könnten.  

Maria ist in freudiger Erwartung – in Erwartung ihres Kindes, in Erwartung der Rettung, die es den Menschen bringen wird. Erwartung, das Wort geht über Hoffnung weit hinaus. Erwartung, das ist anbrechende Erfüllung. In einem weihnachtlichen Bild ausgedrückt: Hoffnung hat das Kind beim Schreiben des Wunschzettels, Erwartung, wenn es auf der Schwelle des Weihnachtszimmers steht und die Geschenke unter dem Christbaum sieht. Gott schürt nicht nur ferne Hoffnungen, er wird sein Werk vollenden, er wird es ausführen und das in Kürze.

Ja, Gott setzt sein Heil ins Werk – macht einen neuen Anfang. Maria besingt diesen Neuanfang als eine wahre Gottesrevolution: „Gott übt Gewalt mit seinem Arm / und zerstreut die hoffärtig sind in ihres Herzens Sinn.“ Martin Luther erklärt in seiner Auslegung des Lobgesangs Marias zu den Versen: „Gott lässt zu, dass die Frommen kraftlos und unterdrückt werden. Jedermann meint, nun es sei aus mit ihnen, es gehe zu Ende, aber eben dort ist Gott am stärksten. Gottes Stärke ist verborgen und heimlich, so dass die Leidenden sie nicht merken, sondern nur an Gottes Macht glauben können.
ABER: da wo menschliche Kraft ausgeht, da geht Gottes Kraft ein, wenn nur beim Menschen der Glaube da ist und mit Gott rechnet. So war Christus kraftlos am Kreuz, und hatte gerade dort die größte Macht, besiegte Sünde, Tod, Welt, Hölle, Teufel und alles Übel. So sind auch alle Märtyrer stark gewesen und haben gewonnen, genauso gewinnen auch alle Leidenden und Unterdrückten.
Andererseits lässt Gott zu, dass sich die Feinde groß und mächtig erheben. Da nimmt er seine Kraft heraus, und lässt sie sich mit eigener Kraft aufblasen. Denn wo Menschen der eigenen Kraft vertrauen – da zieht Gott seine Kraft heraus. Die Narren wissen nicht, dass sie von Gott verlassen sind. Ihr Ding währt eine Zeit und zerplatzt dann wie eine Wasserblase.“ Denn Gott wird die Gewaltigen vom Thron stoßen und die Niedrigen erhöhen.
Gott stürzt die Tyrannen – ein flüchtiger Blick in die Geschichtsbücher genügt, um diese Wahrheit tausendfach bestätigt zu sehen. Und selbst der größte Tyrann, dem wir Menschen ausgeliefert sind, der Tod – wird durch in besiegt. Jesus, der Sohn Gottes, das Kind Marias, bricht seine Herrschaft. Dies ist der wahre Neuanfang für uns Menschen – im Tod siegt das Leben, für das wir Menschen von Gott geschaffen wurden.

Im Triumph schließt Maria ihr Lied – Gott wird als König herrschen und er wird sein Volk groß und herrlich machen, so wie er sich jetzt ihr selbst zugewandt hat. Kein Wunder, dass dieses Lied der Maria, das Magnificat, vielen Christen in Unterdrückung und Leid Kraft gegeben hat, im Vertrauen auf Gott dem Unrecht zu trotzen.
Die Militärdiktatur Argentiniens zeigte die ganze Ohnmacht der scheinbar Mächtigen, als sie kurz vor dem Zusammenbruch ihrer Herrschaft das Magnificat verbieten ließ. Es durfte in Gottesdiensten und bei öffentlichen Veranstaltungen nicht mehr gebetet oder gesungen werden – kaum vorstellbar, dass im katholischen Lateinamerika das Lied Marias verboten wurde. Ein Beispiel dafür, was für eine Kraft dem biblischen Wort innewohnt, eine Kraft, die Diktaturen erschüttern kann, eine Kraft, die Schwache, Müde und Resignierte erfüllen und ihr Leben verändern kann.

Armut, Demut, Vertrauen, Erwartung, Neuanfang und Triumph – A, D, V, E, N, T so buchstabiert man ADVENT! Armut, Demut, Vertrauen, Erwartung, Neuanfang und Triumph – das sind seine Inhalte.
Ein adventlicher Mensch kann – wie Maria – die Nähe Gottes erfahren und sie für andere erfahrbar machen! Ein adventlicher Mensch kann ein Freudenbote werden, denn seine Freude an Gott strahlt aus! Ein adventlicher Mensch hat auch den Weihnachtschristen etwas zu geben!
So wollen wir Gott bitten, dass er uns zu adventlichen Menschen mache, damit wir seinen Sohn an Weihnachten empfangen und ihn dankbar loben können:
Meine Seele erhebt den Herrn
und mein Geist freut sich Gottes, meines Heilandes. Amen.