Vor vierzig Jahren verstarb der ehemalige Pfarrer von Rüdenhausen und Wiesentheid, Hermann Dietzfelbinger, am 15.11.1984. Wir erinnern uns an diesen bedeutenden bayerischen Kirchenmann, der von 1955 bis 1975 als Landesbischof an der Spitze der ELKB stand, indem wir auf sein Wirken in unserer Pfarrei blicken:  

Epistel: Titus 1,5-9

Deswegen ließ ich dich in Kreta, dass du vollends ausrichten solltest, was noch fehlt, und überall in den Städten Älteste einsetzen, wie ich dir befohlen habe: wenn einer untadelig ist, Mann einer einzigen Frau, der gläubige Kinder hat, die nicht im Ruf stehen, liederlich oder ungehorsam zu sein. Denn ein Bischof soll untadelig sein als ein Haushalter Gottes, nicht eigensinnig, nicht jähzornig, kein Säufer, nicht streitsüchtig, nicht schändlichen Gewinn suchen; sondern gastfrei, gütig, besonnen, gerecht, fromm, enthaltsam; er halte sich an das Wort der Lehre, das gewiss ist, damit er die Kraft habe, zu ermahnen mit der heilsamen Lehre und zurechtzuweisen, die widersprechen.

     

Gemeinde des Herrn Jesus Christus, Schwestern und Brüder,

„Gemeindepfarrer sein ist die Krone des geistlichen Amtes.“ So schreibt Hermann Dietzfelbinger am Beginn seines Berichtes über seinen Dienst in Rüdenhausen. Dietzfelbinger, der in der Folgezeit steile Karriere in der Kirche machte, sah sich letztlich schon zu Beginn am Ziel: Etwas Höheres als das Gemeindepfarramt kann man als Theologe nicht anstreben und auch nicht erreichen. Das hört sich überraschend an – vor allem wenn es jemand schreibt, der selbst Leiter des Predigerseminars, Rektor des Neuendettelsauer Diakoniewerkes, Landesbischof und Ratsvorsitzender der EKD wurde. Soll das nur ein freundschaftlicher Trost für all diejenigen sein, die über die Stelle des Dorfpfarrers nie hinauskommen? Nein! Es gibt keinen Zweifel, dass Dietzfelbinger diese Aussage völlig ernst meinte. Jesus gibt nach seiner Auferstehung seinen Aposteln den Heiligen Geist – und den Auftrag, Menschen, die von Schuld gequält werden, die Sünden zu vergeben. Bis heute üben die Gemeindepfarrer Seelsorge und Beichte aus. Und wenn Paulus schreibt, dass der Bischof als Haushalter Gottes das Evangelium lehren soll, dann meint er damit nicht einen Landesbischof fernab in München oder eine Regionalbischöfin in Ansbach – sondern den Ortsbischof, den Gemeindepfarrer z.B. von Rüdenhausen. Dietzfelbinger war überzeugt – der Landesbischof übt das gleiche Amt aus wie als Gemeindepfarrer: lehren, predigen, Sünden vergeben – der einzige Unterschied ist, er tut es für eine größere Zahl von Gemeinden. Aber es ist das gleiche Amt, es ist derselbe Hirtendienst. Und mehr als Gemeindepfarrer kann man darum auch nicht sein.

Als Dietzfelbinger 1935 seinen Dienst in Rüdenhausen antrat, fühlte sich gleich als Hirte der Gemeinde. Wer Dietzfelbingers Aufzeichnungen liest, der kann leicht zum Gedanken kommen, er habe sich in Rüdenhausen nicht wohlgefühlt. Seine Ausführungen sind alles andere als unkritisch, manche Worte sind sogar ausgesprochen scharf. Sie werden nur richtig verstanden, wenn man vorher bedenkt, was er über Hirtenamt und Herde Gottes sagt: Die Gemeinde ist das „heilige Volk Gottes“, das der Pfarrer im Auftrag des Herrn zu leiten hat. Er darf deshalb nicht die Augen verschließen vor den „Fehlern und Gebrechen“ der Gemeinde, muss sie vielmehr beim Namen nennen. Aber alle Schwächen ändern nichts daran: die Gemeinde besteht aus den „Auserwählten, Heiligen und Geliebten Gottes“. Dieses Verständnis prägt Dietzfelbingers Darstellung von Rüdenhausen: Fehler werden offen angesprochen – aber zugleich wird herausgestellt: Diese fehlbaren Menschen gehören Gott, der sie durch Jesu Blut für sich erkauft hat.           

Am 1. Januar 1935 kam Hermann Dietzfelbinger in Markt Bibart am Bahnhof an. Der fürstliche Chauffeur holte ihn in einem dunkelroten Auto ab und unter dem Geläut der Glocken und dem Gesang des Kirchenchores fuhr der neue Pfarrer in Rüdenhausen ein. Dietzfelbinger kam als Patronatspfarrer nach Rüdenhausen, das bedeutet, er war durch Fürst Rupert aus einer Vorschlagsliste ausgewählt worden. Wir müssen diese Entscheidung im Zusammenhang mit der damaligen Zeit sehen: Hitler war seit fast zwei Jahren in Deutschland an der Macht und es war sein Ziel, die evangelische Kirche zu unterwerfen. Hitlers Partei in der Kirche nannte sich „Deutsche Christen“, diese Leute waren glühende Nazis und wollten doch zugleich Christen sein, allerdings von  ganz  eigener Art. Sie glaubten nicht an Jesus den gekreuzigten Heiland, sie glaubten an den Helden Jesus, der sich im Kampf für seine Sache geopfert hatte. Das Reich Gottes war für sie das Deutsche Reich, die Kirche sollte nur für Volksgenossen sein, Menschen jüdischer Abstammung sollten ausgeschlossen werden. Die Deutschen Christen wurden dank Hitlers Unterstützung fast überall die stärkste Kraft, sie stellten beinahe im ganzen Reich die Bischöfe. Nicht aber in Bayern! Hier war der bekennende Lutheraner Hans Meiser Landesbischof. Den Nazis war Meiser ein Dorn im Auge, am 11. Oktober 1934 erklärten sie Meiser für abgesetzt und stellten ihn unter Hausarrest. Es ist vor allem der evangelischen fränkischen Bevölkerung zu verdanken, dass die Absetzung schließlich rückgängig gemacht werden musste: In riesengroßer Zahl reisten die Protestanten aus Nordbayern nach München um für ihre Bischof zu demonstrieren – diese Massenproteste waren einzigartig im Dritten Reich. Inzwischen ist Landesbischof Meiser, der nach dem Ende des 3. Reiches allgemein als Held galt, umstritten. Ihm wird vorgeworfen, zuviele Zugeständnisse gemacht, sich zuoft der Sprache der Zeit bedient zu haben. Solche Urteile sind aus dem Abstand von Jahrzehnten relativ leicht zu sprechen – in seiner Zeit wurde er vom Regime als Gegner wahrgenommen.     

In die Tage des Kampfes um Meiser fiel das Bewerbungsgespräch von Dietzfelbinger bei Fürst Rupert in Rüdenhausen – und die Situation prägte es. Fürst Rupert entschied sich für Dietzfelbinger, weil er sich zu Meiser bekannte und die Deutschen Christen entschlossen ablehnte. Dies zeigt, wie Fürst Rupert zu den braunen Machthabern stand. Dietzfelbinger dankte der Familie Castell-Rüdenhausen für den „festen Rückhalt“ in der schweren Zeit, den er stets hatte. Besonders die Fürstinmutter Mechthild, die nach seinen Worten eine „klare biblische Erkenntnis“ hatte, stand ihm sehr nahe.      

Am 28. Januar 1935 wurde Dietzfelbinger von Dekan Mebs installiert, der Dekan predigte über eine Glockenaufschrift: „Am Himmel hang‘ ich, den Menschen dien ich.“

Am Tag seiner Einführung machte Dietzfelbinger aber auch eine unangenehme Erfahrung – leider schrieb er nicht, welche es war. Er hielt fest: „Die Leute von Rüdenhausen können auch streiten und intrigieren, was ich gleich am ersten Tag sehr anschaulich erfuhr.“

Anstoß nahm der junge Pfarrer am schlechten Gottesdienstbesuch – er bemerkte ironisch: „Luthers Satz … die Kirche ist verborgen, die Heiligen sind versteckt, galt auch für die Gemeinde Rüdenhausen.“

Dietzfelbinger war umso dankbarer für die treuen Gemeindeglieder, die das kirchliche Leben trugen: Dem alten Herrn Ackermann im Armenhaus fühlte er sich besonders verbunden – wenn der Pfarrer beim Predigtschreiben nicht weiterkam, suchte er diesen frommen Mann auf, um mit ihm über den Bibeltext zu sprechen.

Zum Gottesdienst alle 14 Tage in Wiesentheid wurde er mit dem Auto durch einen „Beförderungsdienst“ der Gemeindeglieder abgeholt, ansonsten bediente er sich des Fahrrads.  Ein evangelischer Pfarrer braucht eine Pfarrfrau! So galt es, seit Luther seine Katharina heiratete – und so wird es (so Gott will) auch immer bleiben! Am 2. März 1935 heiratete Dietzfelbinger in der Nürnberger Lorenzkirche seine Verlobte Hedwig Stählin, die Trauung wurde durch seinen Vater gehalten. Am 4. März wurde die neue Pfarrfrau mit Brot und Salz in Rüdenhausen willkommen geheißen. Aber es gab ein Problem: Die hochgebildete Pfarrfrau konnte zwar mit ihrem Mann über den griechischen Bibeltext diskutieren, aber sie hatte große Probleme mit dem Fränkischen! Hedwig Dietzfelbinger schrieb später darüber: „Ich konnte manches einfach nicht verstehen, was die Leute zu mir sagten, und antwortete je nach Tonfall der Anrede mit „ja“ oder „nein“ – sicher war das … oft Unsinn!“

Aber gemeinsam wuchs das Pfarrerspaar in die Aufgaben vor Ort hinein, und Dietzfelbinger gab später als Bischof seinen jungen Pfarrerskollegen den Rat: „Sieh zu, dass du mit deiner Frau einige Jahre deines Dienstes auf dem Land verbringst!“

So nett und idyllisch das klingt: Das Dritte Reich beeinflusste auch das kirchliche Klima in Rüdenhausen. Der Gendarm aus dem Nachborort war regelmäßig Gast in Rüdenhausen. Hedwig Dietzfelbinger schreibt: „Der Polizist setzte sich … in die Kirche und nahm am Gottesdienst teil – aber nicht als Gemeindeglied, sondern als Spitzel. Er hatte acht auf jedes Wort, das der Pfarrer sprach, und machte seine Notizen.“

Pfarrer Dietzfelbinger berichtet, dass dieser Gendarm ihn wegen einer Predigt über den 1. Johannesbrief 4,1-6 anzeigte, in der er über die „Verwirrung der Geister“ gesprochen und scharf kritisiert hatte, dass im Nachbardorf [Wiesenbronn] eine Puppe, die einen Juden darstellen sollte, an einem Galgenstrick aufgehängt worden war. Aber der Rüdenhäuser Pfarrer hatte Glück. Der Polizist hatte der Predigt nicht richtig folgen können und – wie die Pfarrfrau festhielt – „Unsinn“ aufgeschrieben. U.a. hatte er die „Verwirrung der Geister“ zur „Verewigung der Geister“ entstellt – was er sich darunter vorstellte, ist noch heute ungeklärt. Der Richter am Amtsgericht Kitzingen sprach Diezfelbinger frei – dabei war sicher der Umstand hilfreich, dass er und der Angeklagte zusammen am Windsbacher Gymnasium die Schulbank gedrückt hatten.

In Wiesentheid musste sich Dietzfelbinger mit einer Gruppe „Deutscher Christen“ auseinandersetzen, die aber nach einiger Zeit ihre Versammlungen wieder einstellten.     

Für uns Nachgeborene gibt es keinen Zweifel: Man kann nicht bibelgläubiger Christ und Nazi sein. In der Zeit selbst war das längst nicht so klar. Dietzfelbinger erinnert sich an treue Kirchgänger, die schon in den 20er Jahren der NSDAP beigetreten waren – und einige dieser Leute haben ihn in seiner Auseinandersetzung mit den braunen Machthabern treu unterstützt. Sie standen, wenn es zum Konflikt kam, nach Dietzfelbingers Worten zur „Wahrheit des Evangeliums“.  

Besonders den Ortsbürgermeister hebt er lobend hervor. Der Bürgermeister gehörte dem Kirchenvorstand an. Dies passte der Partei nicht, die sich offen kirchenfeindlich zeigte und  Druck ausübte, er müsse aus dem Kirchenvorstand ausscheiden. Hier kam den Beteiligten das Kirchenrecht zugute. Aus dem Kirchenvorstand kann man (übrigens bis heute) nicht einfach zurücktreten, man muss entlassen werden. Als Bürgermeister Heinrich Paul den Antrag auf Entlassung stellte, wurde dieser durch den Pfarrer abgelehnt. Der Bürgermeister blieb im Kirchenvorstand. Als der Kreisleiter der Partei die Entscheidung gegen die Gemeinde erzwingen wollte, teilte der Bürgermeister ihm seine Bereitschaft mit, sein Amt niederzulegen: Wohlgemerkt das Amt des Bürgermeisters! Aber soweit kam es damals noch nicht.

Später kämpften Pfarrer und Bürgermeister gemeinsam für den Erhalt der evangelischen Volksschule, die das Regime abschaffen wollten. Natürlich setzten die Nazis ihren Willen letztlich durch – aber im ganzen Bezirk stießen sie allein in Rüdenhausen auf nennenswerten Widerstand. Bürgermeister Paul wurde daraufhin von den braunen Machthabern abgesetzt.        

Privat waren die Jahre in Rüdenhausen für Dietzfelbingers gesegnet. Den Pfarrersleuten wurden in Rüdenhausen zwei Kinder geboren: Wolfgang und Erika. Beide wurden durch den Urgroßvater, Christian Nicol, in Rüdenhausen getauft. Dietzfelbinger beschreibt an dieser Stelle liebevoll die Besonderheiten einer Taufe in unserer Kirche: „Es war auch nicht ein gewöhnlicher Taufstein, an dem die Taufen gehalten wurden, sondern ein Taufengel, der, wenn er nicht gebraucht wurde, in  der Höhe an einer Kette über dem Altarraum schwebte, aber zur Taufe heruntergelassen wurde. In seinen beiden Händen hielt er das Taufbecken, über dem das Kind getauft wurde; übrigens war es dann bei der Konfirmation Sitte, dass die Konfirmanden an das Taufbecken traten, auf dem eine Bibel lag, und unter Aufsagen einer Liedstrophe den Taufbund erneuerten: „Bei dir, Jesu, will ich bleiben, stets in deinem Dienste stehn.“

Nicht der Pfarrer, aber die Pfarrfrau gedenkt in ihren Lebenserinnerungen auch der Rüdenhäuser Kerm: Für die „Männer war … ein Höhepunkt des Jahres das Kirchweihfest. Es wurde drei Tage lang gefeiert, u.a. auch mit einem Preisschießen. Neben den Ortsansässigen durften auch der Lehrer und der Pfarrer einen Schuss auf die Zielscheibe abgeben. Diese war mit umgekehrten Spielkarten abgedeckt, und es war purer Zufall, dass mein Mann bei dem ersten Kirchweihfest, das wir in Rüdenhausen miterlebten, eine As traf. Mit ehrerbietiger Bewunderung wurde diese Tat von den Rüdenhäusern quittiert, und wir hatten das Gefühl, erst jetzt richtig akzeptiert zu sein.“

Nachdem der Wiesentheider Betsaal schon länger baufällig war, wurden erste Pläne für den Bau einer richtigen Kirche gemacht. Deren Umsetzung wurde durch das Landeskirchenamt verzögert. Dietzfelbinger merkt ironisch an: „Über den Auseinandersetzungen verging die Zeit und es kam der Krieg.“

Im April 1939 wurde Hermann Dietzfelbinger als Assistent von Bischof Meiser nach München berufen – seine Zeit in Rüdenhausen war damit zu Ende. Aber er hielt seiner alten Gemeinde lebenslang die Treue. Auf seinem Weg von München nach Hannover zu den EKD-Versammlungen kehrte er immer gern in Rüdenhausen im Pfarrhaus ein – zu Mittagessen und einer Stunde Schlaf bei Pfarrer Werner und seiner Familie. Und er hielt sich auf dem Laufenden über seine damalige Herde: „Gemeindepfarrer sein ist die Krone des geistlichen Amtes.“

Hermann Dietzfelbinger zeigt uns, was es bedeutet, als Pfarrer ein treuer Haushalter Gottes zu sein. Das Wort Gottes war sein fester Halt in allen Auseinandersetzungen der Zeit. Er bezeugte es gegen alle Widerstände und erfüllte so die Vorgabe des Apostels Paulus: Der Bischof „halte sich an das Wort der Lehre, das gewiss ist, damit er die Kraft habe, zu ermahnen mit der heilsamen Lehre und zurechtzuweisen, die widersprechen.“ Amen.         

Text: Martin Fromm

Zum Gedenken an Pfarrer Herrmann Dietzfelbinger

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