Ich ermahne euch nun, liebe Brüder, durch die Barmherzigkeit Gottes, dass ihr eure Leiber hingebt als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist. Das sei euer vernünftiger Gottesdienst. Und stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene. Denn ich sage durch die Gnade, die mir gegeben ist, jedem unter euch, dass niemand mehr von sich halte, als sich’s gebührt zu halten, sondern dass er maßvoll von sich halte, ein jeder, wie Gott das Maß des Glaubens ausgeteilt hat. Denn wie wir an einem Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe haben, so sind wir viele ein Leib in Christus, aber untereinander ist einer des andern Glied, und haben verschiedene Gaben nach der Gnade, die uns gegeben ist. Ist jemand prophetische Rede gegeben, so übe er sie dem Glauben gemäß. Ist jemand ein Amt gegeben, so diene er. Ist jemand Lehre gegeben, so lehre er. Ist jemand Ermahnung gegeben, so ermahne er. Gibt jemand, so gebe er mit lauterem Sinn. Steht jemand der Gemeinde vor, so sei er sorgfältig. Übt jemand Barmherzigkeit, so tue er’s gern.

 

Gemeinde des Herrn Jesus Christus, Schwestern und Brüder,

 

gebt eure Leiber hin als ein Opfer, das lebendig, heilig und Gott wohlgefällig ist“, so schreibt der Apostel Paulus an die Gemeinde in Rom. Ein Text, der leicht für Verwirrung sorgen kann! Wenn Gott will, dass wir unseren eigenen Körper als Opfer darbringen – will er dann Menschenopfer? Und nicht nur allgemein, sondern UNS, noch genauer MICH, als sein Menschenopfer?

Die Antwort auf die Frage ist zunächst auch verwirrend: Sie lautet: Ja und Nein! Fangen wir mit dem einfacheren an, mit dem Nein: Gott will nicht, dass wir uns seinetwegen als Brandopfer auf einen Altar legen. Nichts könnte dem Willen Gottes mehr entgegen sein, als das! Mehr noch, mit dem Opfer Jesu am Kreuz auf Golgatha haben alle Opfer für immer ein Ende gefunden – er hat unsere Schuld getilgt, unsere Versöhnung mit Gott gewirkt, als er sich auf Golgatha darbrachte. Wir sind um Jesu willen von Gott angenommen, wir sind sein in Zeit und Ewigkeit.

Soviel zum Nein – und jetzt kommen wir zum Ja: Wir gehören Gott ganz und gar – und sollen ihm mit allem unseren Möglichkeiten dienen. Wir sollen von Jesus nicht nur wissen – wissen tut man mit dem Hirn! Wir sollen mit dem Herzen auf ihn vertrauen, mit den Händen für ihn tätig sein, uns mit unseren Füßen aufmachen zu den Menschen, die ihn nicht kennen! Das ist unser Lobopfer – und wir bringen es als ganze Menschen dar: Also mit unserem Denken, Fühlen und Tun – mit Geist, Seele und Leib. Wir loben Gott mit unserem Leib, wenn wir das, was wir in der Bibel lernen, in die Tat umsetzen.    

 

Von Wilhelm Löhe können wir uns anregen lassen, was das für uns bedeuten kann. Löhe, 1808 in Fürth geboren, wollte von frühester Kindheit an Pfarrer werden. Nach dem Abitur studierte er in Erlangen Theologie. Aber so wichtig ihm die wissenschaftliche Theologie grundsätzlich war – sie reichte ihm nicht.

Löhes Studienzeit war stark vom Geist der Aufklärung geprägt – Bibelkritik war selbstverständlich, es ging um natürliche Gotteserkenntnis – also darum, im Staunen über die Wunder der Natur, im Erkennen, der eigenen sittlichen Antriebe und Kräfte – Gott zu finden. Dieser Gott war der oberste Weltenordner, der der Natur und dem Gewissen seine Gesetze eingeprägt hatte. Der Mensch, so meinten die Aufklärer, könne nach die ewigen Ordnungen leben, die Welt zum Guten gestalten und so Erfüllung finden.  Von der Sünde, der Trennung des Menschen von Gott, vom Kreuz, von der Erlösung durch Christi Blut, von Mission – also davon, Menschen die Rettung um Jesu willen anzusagen und sie Glauben aufzurufen – war in der Aufklärungstheologie nicht die Rede. Im Grunde brauchte die Aufklärungstheologie Jesus überhaupt nicht – ein etwas verschwommenes Bild von Gott und der Glaube an die unbegrenzten Fähigkeiten des Menschen reichten ihr völlig. Kurz und gut: Die Lage in der Kirche damals ähnelte der Lage heute.

 

Löhe reichte das nicht. Er war ganz auf Jesus ausgerichtet – er lebte aus und mit der Bibel – und liebte die Feier des Heiligen Abendmahls in der Jesus, sich uns schenkt unter Brot und Wein in seinem wahren Leib und Blut. Und weil Jesus sich für uns hingibt – wollte Löhe sich – ganz im Sinne des Apostels Paulus – für Jesus hingeben.

 

Löhe gründete deshalb als Student ein sogenanntes Missionskränzchen, also eine Art Hauskreis, der gemeinsam die Bibel las und betete, aber auch die Arbeit der Basler Mission intensiv unterstütze. Außerdem halfen sich die Mitglieder dabei, im Alltag den Glauben in die Tat umzusetzen. Wilhelm Löhe gab für sein Missionskränzchen das Motto aus:

Tun wir auch wenig, so tun wir’s doch aus gutem Herzen!

Tun wir nicht viel, so tun wir doch etwas!

Tun wir nur Kleines, sein Segen kann’s zu Großem machen!

Tun wir auch wenig an andern, so kann’s doch uns selbst zur Erweckung dienen!

Sind wir unser auch eine kleine Zahl, – ER ist doch in unserer Mitte! Amen! Amen!

 

Schwestern und Brüder,

schon bei dem Studenten Löhe finden wir hier die Grundlinien seiner späteren Tätigkeit als Gründer der Neuendettelsauer Diakonie und der Missionsarbeit: Als Erlöste sollen wir Christus in den Menschen dienen – unser Dienst hat nicht das Ziel, uns selber zu erlösen, das sind wir schon, aber er soll Lobopfer sein, tätige Anbetung Gottes – mit Herz und Mund und Händen.

 

Der Apostel Paulus nennt dies unseren „vernünftigen Gottesdienst“. Unter Gottesdienst verstehen wir im Normalfall, dass wir in die Kirche gehen, die Predigt hören, beten, singen, das Heilige Abendmahl feiern. Paulus meint etwas anderes: Unser „vernünftiger Gottesdienst“ spielt sich in der Welt ab, wo wir als Christen Gott in den Mitmenschen dienen. Aber was passiert dann in der Kirche? Da, Schwestern und Brüder, dienen wir nicht Gott – da dient Gott uns! ER spricht zu uns durch sein Wort, ER spricht uns die Vergebung unserer Sünden zu, ER schenkt sich uns im Brot des Lebens und im Kelch des Heils, ER hört unsere Nöte, ER segnet uns!

Der berühmteste Satz Wilhelm Löhes lautet: „Alle Diakonie geht vom Altar aus!“ Also, indem Jesus uns dient und uns durch sein Blut von Sünde, Tod und Hölle rettet, macht er uns fähig zu dienen. Diakonie heißt auf Griechisch „Dienen“.

 

Schwestern und Brüder,

der Name Löhes wird für immer mit der bayerischen Diakonie verbunden sein. Nach dem Studium, ich sagte es eingangs bereits, wurde Löhe als Vikar von Gemeinde zu Gemeinde weitergereicht. Hier erlebte er vielfältige Armut – und ihre Folgen. Löhe war ganz davon durchdrungen, dass ein Christ ein Leben nach dem Willen Gottes führen soll – Trunksucht, ungezügelte Sexualität, häusliche Gewalt passen nicht zu einem Christen. Löhe – der aus gehobenen Verhältnissen stammte – erlebte schockiert, wie verwahrlost in jeder Hinsicht viele seiner armen Gemeindeglieder waren. Er hielt harte Predigten dagegen, dass in den Unterschichten die ganze Familie ein Bett miteinander teilte, weil er die sittlichen Folgen fürchtete; gegen den extremen Alkoholkonsum; gegen die Brutalität, mit der etwa behinderte Kinder weggesperrt wurden … aber zunehmend musste er einsehen: Die Verrohung war nicht wegzupredigen, denn sie war Folge der Armut der Menschen. Ob mehrere Generationen in einem Bett schlafen und so das natürliche Schamgefühl schon früh verloren geht, hängt – diese Erkenntnis war, wie viele geniale Erkenntnisse, einfach – vor allem davon ab, ob sich die Familie mehrere Betten leisten kann. In dem Moment, als Löhe das begriff, war er überzeugt: Wir müssen uns um die Überwindung des Elends kümmern, damit die Leute ein christliches Leben führen können. Die Forderung des Apostels Paulus: „Stellt euch nicht dieser Welt gleich, sondern ändert euch durch Erneuerung eures Sinnes, damit ihr prüfen könnt, was Gottes Wille ist, nämlich das Gute und Wohlgefällige und Vollkommene“ wird nicht durch Predigen allein erreicht werden, sie braucht auch die Tat der rettenden Liebe.

 

1837 wurde Löhe Dorfpfarrer in Neuendettelsau – und blieb es bis ans Ende seines Lebens. Hier begann er ab 1853 mit dem Aufbau einer diakonischen Arbeit.

Er hatte gemerkt:Wenn wir Seelsorger auf unsere Dörfer hinauskommen, die Kranken zu besuchen, so finden wir allenthalben solche weiblichen Personen, welche sich der Kranken und Elenden mehr als andere annehmen, weil sie durch eine in ihnen liegende Gabe dazu angereizt werden. Sie folgen dem natürlichen Drang. Was ihnen fehlt, ist die Ausbildung der Gabe. … Ausbildung der zum Dienst der leidenden Menschheit begabten Frauen ist ein frommer Wunsch und je länger, je mehr eine Forderung an die Kirche.“ 

 

In der damaligen Gesellschaft heiratete man allgemein standesgemäß. Das galt nicht nur im Adel, sondern auch bei den Bauern, wo der Grundbesitz eine Rolle spielte, aber auch bei Kaufleuten, Handwerkern und sogar in den untersten Schichten. Ein großes Problem waren die Töchter von Dorfpfarrern und Dorflehrern. Auf der einen Seite waren sie überdurchschnittlich gebildet, hatten oft eine gute musikalische Erziehung genossen und waren vielfach in einem Klima christlicher Menschenliebe herangewachsen – auf der anderen Seiten waren die Väter auf den kleinen Pfründen und an den Dorfschulen alles andere als wohlhabend geworden. Sie konnten das Falsche und waren gleichzeitig zu arm, um in eine reiche Bauern- und Händlerfamilie einheiraten zu können – die aber immer noch unter ihrem Stand gewesen wäre. In den meisten Dörfern aber gab es keinen zweiten Pfarrer oder Lehrer – also heirateten sie entweder den Nachfolger des Vaters oder verbrachten das ganze Leben unverheiratet im Elternhaus, kümmerten sich um die Alten und Kranken in der Gemeinde – und lebten in der ständigen Angst, nach dem Tod des Vaters mittellos, ohne Heim und Aufgabe da zustehen. Denn – und das war das größte Drama – eine selbständige Berufstätigkeit für Frauen dieses Standes war vollkommen unüblich.   

 

Löhe, der nach nur 6-jähriger Ehe verwitwet und sich als alleinerziehender Vater sehr schwer tat, hatte einen wachen Blick für die Nöte dieser Frauen – und die brillanteste Idee seines Lebens. Auf der einen Seite gibt es Frauen mit Bildung, christlicher Haltung und sozialer Einstellung, die gerne arbeiten würden – und auf der anderen Seite gibt es mehr als genug Menschen in Elend, die christliche Hilfe dringend brauchen – bringen wir beide zusammen. Also begann Löhe, gemeinsam mit einem Arzt und einem Kantor, solche Frauen für Hilfsdienste an kranken, behinderten oder alten Menschen, an Kindern und an ledigen Müttern auszubilden, sie im Glauben zuzurüsten und dafür zu sorgen, dass seine Diakonissen auch im Alter versorgt sein sollten. 1854 wurde der Grundstein zum Diakonissenmutterhaus gelegt – bis heute das Nervenzentrum der Neuendettelsauer Diakonie.

 

Löhe sah die Nöte der Menschen – und er sah die Gaben, die Gott seiner Gemeinde anvertraut hat, um Abhilfe zu schaffen – zur Ehre und zum Ruhm des Herrn. Er folgte darin dem Apostel Paulus der in unserer Epistel schreibt, welche Talente der Heilige Geist verliehen hat, um die Kirche Jesu zu bauen – und wie wir diese Fähigkeiten entdecken, wertschätzen und einbringen sollen: Denn wie wir an einem Leib viele Glieder haben, aber nicht alle Glieder dieselbe Aufgabe haben, so sind wir viele ein Leib in Christus, aber untereinander ist einer des andern Glied, und haben verschiedene Gaben nach der Gnade, die uns gegeben ist. Ist jemand prophetische Rede gegeben, so übe er sie dem Glauben gemäß. Ist jemand ein Amt gegeben, so diene er. Ist jemand Lehre gegeben, so lehre er. Ist jemand Ermahnung gegeben, so ermahne er. Gibt jemand, so gebe er mit lauterem Sinn. Steht jemand der Gemeinde vor, so sei er sorgfältig. Übt jemand Barmherzigkeit, so tue er’s gern.

  

So nahm sich Löhe auch des Feldes der Äußeren Mission an, nachdem ihm bewusst geworden war, dass ungezählte deutsche Auswanderer in die USA ohne hinreichende geistliche Versorgung in Kürze ihren lutherischen Glauben verlieren würden: Er warb um lutherische Pfarrer für Amerika – und als er keine fand, schickte er Handwerker, denen er theologische Grundkenntnisse vermittelte und Reisegeld organisierte und die dann in den USA zu Pfarrern für deutsche Auswanderergemeinden ausgebildet wurden. Löhe selbst schrieb eine Gottesdienstordnung für die deutschen, lutherischen Auswanderergemeinden in Amerika.

Ja, Löhe kümmerte sich sogar um eine gute Ansiedlung seiner Landsleute in den Vereinigten Staaten: die Orte Frankenmuth, Frankentrost und Frankenhilf in Michigan gehen auf seinen Einsatz zurück – und sogar die Missionsarbeit unter den Indianer nahm er in den Blick.

Dabei blieb er persönlich bescheiden, war sich bewusst, dass er mit keinem seiner Werke vor Gott bestehen könne, sondern allein aus Gnade um Christi willen. So, wie der Apostel schreibt: Niemand von euch halte mehr von sich, als sich’s gebührt zu halten, sondern dass er maßvoll von sich halte, ein jeder, wie Gott das Maß des Glaubens ausgeteilt hat.

 

Schwestern und Brüder,

Wilhelm Löhe war in menschlicher Hinsicht gewiss kein einfacher Charakter, zeitlebens in unzählige Konflikte verstrickt, mit dem frühen Tod seiner innigst geliebten Ehefrau wurde er niemals fertig und für seine eigenen Kinder hatte der verehrte Diakonissenvater viel zu wenig Zeit und Verständnis.

Seine lebenslange Arbeitsleistung überstieg das menschliche Normalmaß um ein Vielfaches – mit Mitte 50 war Löhe körperlich total erschöpft, seine letzten neun Lebensjahre waren von verschiedenen Erkrankungen überschattet. Mit seinen Kräften zu haushalten war ihm nicht gegeben – er brachte seinen Leib buchstäblich als Opfer im Dienst Gottes dar. Am 1. Januar 1872 erlitt der schon vorher pflegebedürftige Löhe einen schweren Schlaganfall, an dem er tags darauf starb. Vorne auf seinem Grabdenkmal stehen die Worte des Apostolischen Glaubensbekenntnisses: Ich glaube eine Gemeinschaft der Heiligen.  

 

Gemeinde des Herrn Jesus Christus, Schwestern und Brüder,

gewiss muss einiges an Löhe kritisch gesehen werden – trotzdem ist und bleibt er ein großes Vorbild für ein Leben im und aus dem Glauben an Jesus.

 

Die Neuendettelsauer Diakonissen sagten das mit einem widersprüchlichen Leitsatz: „Vorwärts zu Löhe“. „Vorwärts“ wohlgemerkt, nicht etwa zurück.

Denn wenn Löhe heute leben würde, wäre er gewiss auf der Höhe Zeit, mit dem wachen Blick für die Probleme der Gegenwart, mit einer genialen Fähigkeit, das Naheliegende zu tun, auf das nur die Wenigsten kommen – und nicht auf die Vergangenheit, sondern auf die Zukunft ausgerichtet, auf Jesus hin, der kommen wird zu richten die Lebenden und die Toten und dessen Reich kein Ende haben wird.

 

Löhes berühmter Diakonissenspruch fasst sein Leben zusammen – aber er ist auch eine Zusammenfassung unseres heutigen Predigttextes:

Was will ich?

Dienen will ich.

 

Wem will ich dienen?

Dem Herrn in Seinen Elenden und Armen.

 

Und was ist mein Lohn?

Ich diene weder um Lohn noch um Dank, sondern aus Dank und Liebe;

mein Lohn ist, dass ich darf!“

 

Und wenn ich dabei umkomme?

„Komme ich um, so komme ich um,“ sprach Esther, die Königin,

die doch Ihn nicht kannte, dem zuliebe ich umkäme, und der mich nicht umkommen lässt.

 

Und wenn ich dabei alt werde?

So wird mein Herz doch grünen wie ein Palmbaum und der Herr wird mich sättigen mit Gnade und Erbarmen. Ich gehe in Frieden und sorge nichts. Amen.