So steht geschrieben im heiligen Evangelium nach Johannes im 10. Kapitel: Jesus Christus spricht: Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. Der Mietling aber, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht – und der Wolf stürzt sich auf die Schafe und zerstreut sie -, denn er ist ein Mietling und kümmert sich nicht um die Schafe.

„Liebe Gemeinde Dickenschied! Liebe Gemeinde Womrath!
Nun haben wir den Leib eures treuen Hirten und Seelsorgers ins Grab gesenkt. Mit euch, der lieben Frau und den Kindern des Entschlafenen und mit seinen Verwandten und Freunden trauert unsere ganze Kirche um den Verlust, den sie mit dem Heimgang unseres Bruders Paul Schneider verloren hat.“

Gemeinde des Herrn Jesus Christus, Schwestern und Brüder,
mit diesen Worten begann die Predigt, die Pastor Johannes Schlingensiepen am 21. Juli 1939 – heute vor 80 Jahren – in der Pfarrkirche von Dickenschied im Hunsrück hielt. Vor der Kanzel, auf der er sprach, stand der Sarg mit dem Leichnam des „treuen Hirten“, Pastor Paul Schneider. Etwa 200 Pfarrer im Talar waren in und um die Kirche versammelt, um ihrem Amtsbruder das Geleit zu geben. Die Pfarreiglieder der zwei kleinen Dorfgemeinden, denen Pastor Schneider mit Gottes Wort gedient hatte, waren ebenso versammelt wie etliche Gläubige aus dem ganzen Umland. Der bayerische Landesbischof Dr. Meiser und der württembergische Landesbischof Dr. Wurm hatten Abordnungen nach Dickenschied geschickt, die Bruderschaft der Hilfsprediger und Vikare aus Berlin war auf dem Dorffriedhof ebenso vertreten, wie die evangelische Kirche in Schlesien. Wer an diesem Tag fehlte, das waren Schneiders Landesbischof Dr. Oberheid und die Leitung seiner rheinischen Kirche.

Schwestern und Brüder,
das Jahr 2019 ist dem Gedenken an die Widerstandskämpfer gegen den Nationalsozialismus gewidmet – war doch gestern der 75. Jahrestag des gescheiterten Anschlags von Oberst Claus Schenk Graf von Stauffenberg auf Adolf Hitler. In diese Erinnerung sind die vielen Märtyrer einbezogen, die für Deutschlands Freiheit, den Frieden in Europa und die Gerechtigkeit zwischen Völkern gekämpft haben – und dafür ihr Leben gegeben haben. Sie handelten aus den verschiedensten Beweggründen: manche waren Kommunisten, andere hielten an der gestürzten Monarchie fest, es gab Demokraten und Anhänger einer autoritären Herrschaft. Das Umfeld, aus dem sie kamen, war denkbar unterschiedlich: Gruppen ehemaliger Pfadfinder verweigerten sich dem Ungeist des Naziregimes, ebenso wie Gesprächskreise von intellektuellen Adeligen, verschworene Studenten oder die Veteranen der aufgelösten Arbeitervereine. So viel sie trennte – sie waren eins im Widerstand gegen die Terrorherrschaft Hitlers. Und noch etwas schlug eine Brücke zwischen ihnen: In fast allen Gruppen arbeiteten überzeugte Christen mit. Sie widersetzten sich im Glauben an den einen Herrn Jesus Christus und an das Reich Gottes der Vereinnahmung durch den Führer Adolf Hitler und seinen Traum vom Großdeutschen Reich.

Einer dieser Christen war Pastor Paul Schneider – der erste Märtyrer der evangelischen Kirche im 3. Reich. Wie wenige andere taugt Schneider, der heute weithin in Vergessenheit geraten ist, zum Vorbild: Er hatte keinen Zugang zum Führerhauptquartier wie Graf Stauffenberg, keinen Draht zu Stalins Sowjetunion wie die Netzwerke der Kommunisten und nicht einmal Mitverschwörer. Er war kein Intellektueller wie Dietrich Bonhoeffer, er machte sich nicht – wie Hans Scholl – Gedanken über den Neuaufbau eines „besseren Deutschlands“ nach dem Krieg und er leistete seinen Widerstand nicht einmal um eine zentrale Frage der Theologie, wie dies bei Martin Niemöller der Fall war. Schneider war schlicht und einfach der „treue Hirte“ der kleinsten evangelischen Pfarrei des Rheinlands, Dickenschied-Womrath. Schneider zeigt damals wie heute: Es ist keine Frage von hoher Intelligenz und tiefer Bildung ob man sich dem Unrecht in den Weg stellt, auch nicht von Einfluss und Macht, sondern schlicht eines geschärften  Gewissens und eines vorbehaltlosen „Ja“ zum Auftrag des Herrn.  

Schwestern und Brüder,
wir haben nun schon mehrfach gehört: Paul Schneider war ein „treuer Hirte“ – darin klingt natürlich der 23. Psalm an und die Rede Jesu vom guten Hirten aus dem Johannesevangelium. An beiden Schriftstellen ist mit dem guten Hirten der Herr Jesus Christus gemeint – er weidet seine Schafe auf grüner Aue und führet sie zum frischen Wasser, er kennt sein Herde und lässt für sie sein Leben. Aber in der Bibel werden diese Hirtenworte auch weiter gefasst: Im Alten Testament wird der König Israels als Hirte bezeichnet, der im Auftrag Gottes sein Volk weidet – und das Neuen Testament nennt die Ältesten, also die Vorläufer der Pfarrer, Hirten, die nach dem Vorbild des Erzhirten Christus seiner Gemeinde treu dienen sollen. Ja, die Bezeichnung Hirte, lateinisch „Pastor“, ist sogar zum Amtstitel der Geistlichen geworden. Jesus setzt dem guten Hirten im Evangelium den Mietling entgegen – also den Lohnschäfer, für den der Dienst an der Herde (in die Sprache unserer Zeit übertragen) nur ein „Job“ ist. Ein Job mit fester Arbeitszeit, festem Stellenprofil und festem Gehalt – und natürlich auch fester Freizeit, in der niemand was von einem will. Und wenn der Job zu anstrengend, zu nervenzehrend oder zu gefährlich wird, schmeißt man hin und sucht sich einen neuen Job, denn – wenn es einem egal ist, was man genau macht – ist an Jobs ist kein Mangel. Die Unterscheidung zwischen Mietling und Hirte, zwischen Job und Beruf, ist eigentlich ganz einfach: Einen Job MACHT man; bei einem Beruf dagegen gilt: Ich BIN Handwerker, Lehrer oder eben Pastor.

Paul Schneider war Pastor – und er war es ganz! Er machte es sich selbst nicht leicht – und auch den Menschen in seiner Umgebung nicht – nicht seinen erbitterten Gegner, aber auch seiner Familie, seinen Freunden und seinen Gemeinden nicht! Blicken wir gemeinsam auf das Leben dieses „treuen Hirten“: Paul wurde am 29. August 1897 in die Pfarrfamilie von Pferdsfeld hineingeboren. Im  Pfarrhaus seines Vaters Gustav Adolf Schneider wurde Paul im Geist einer strengen Frömmigkeit und eines starken Patriotismus erzogen – so wie viele evangelische Pfarrerskinder dieser Zeit. Der allmächtige Gott und der von Gottes Gnaden regierende Kaiser waren die Bezugspunkte seiner Jugend. Der hohe, vielleicht überhohe, Anspruch des Vaters an den Sohn zeigt sich in der Wahl des Bibelwortes, das er ihm bei der Konfirmation mitgab: „Ich bin dazu geboren und in die Welt gekommen, dass ich die Wahrheit bezeugen soll.“ Christus bezieht diese Worte auf sich selbst – und nur er kann sie erfüllen. Jesu Leben und sein Wirken, sein Sterben am Kreuz und seine Auferstehung sind ein einziges Zeugnis für die Wahrheit, die er selbst in Person ist und um derentwillen er in die Welt gekommen ist. Dennoch blieben sie Paul Schneider im Leben und im Sterben Ansporn und Verpflichtung. Zunächst aber ließ ihn seine leidenschaftliche Vaterlandsliebe im I. Weltkrieg dem Ruf zu den Waffen folgen. Als Leutnant, ausgezeichnet für besondere Tapferkeit, erlebte er das Kriegsende.  Die Niederlage empfand er – wie alle Nationalgesinnten – als schreckliche Schmach und Entehrung Deutschlands. Gleichzeitig traf ihn die Not von weiten Teilen der Bevölkerung schwer. Um zu helfen, die „physischen und geistigen Wunden des Volkes zu schließen“ studierte er Theologie.

Schon am Gymnasium war der junge Schneider zum scharfen Bibelkritiker und Anhänger der liberalen Theologie geworden. In der liberalen Theologie wurde alles und jedes infrage gestellt: Die Gottheit Jesu, seine Wunder, sein Sühneopfer am Kreuz, seine leibliche Auferstehung – und allen voran, dass die Bibel, die ja all dies behauptet, das Wort Gottes sei. Die Zerstörung der Grundlagen des christlichen Glaubens empfanden die Liberalen als Dienst an der Wahrheit – wahrscheinlich war es das, was Schneider zunächst anzog. Auch an der Universität Marburg bewegte sich Schneider anfänglich auf dem liberalen Gleis. In seinem 2. Studienjahr 1920 aber hörte er in Tübingen Vorlesungen bei Prof. Dr. Karl Heim, einem tief frommen Mann und bedeutenden theologischen Denker der konservativen Richtung. Heim machte solchen Eindruck auf den Studenten Schneider, dass er vom theologischen Liberalismus abrückte. 

Aber nicht nur theologisch, sondern auch privat, brachte dieses Jahr erhebliche Veränderungen: Paul Schneider verliebte sich in die Pfarrerstochter Margarethe Dieterich. Dennoch sollten sechs lange Jahre vergehen, bevor sie miteinander die Ehe schlossen.
Geschuldet war die späte Hochzeit Schneiders eigenartiger Neigung, nie das Naheliegende zu tun, sondern lieber Umwege einzuschlagen: Nach dem 1. theologischen Examen trat er nicht etwa das Vikariat an – sondern verrichtete für drei Monate im Ruhrgebiet Schwerstarbeit an einem Hochofen. In sein Tagebuch schrieb er: „Wie schmeckt auf Schicht ein Schluck kalten Wassers so gut! Was für ein Genuss ist in dem Brausebad nach Staub und Dreck der Arbeit enthalten! O kehr zurück zu dem göttlichen Gebot: Im Schweiße deines Angesichts sollst du dein Brot essen!“ Als er abreiste, um im Predigerseminar in Soest seine Ausbildung weiter zu führen, war er erfüllt vom „Glauben an unsere Arbeiter“.

Nach dem Ende des Vikariats überraschte er wieder alle: Statt im Rheinland Pfarrer der Landeskirche zu werden, machte erstmal ein einjähriges Praktikum bei einer Freikirche in Berlin. Die leidenschaftliche Jesusliebe, die er hier erlebte, brachte ihn dazu, sich kritisch zu hinterfragen: Meinst du eigentlich deinen Glauben genauso ernst, wie sie das tun? Wenn wir uns klar machen, dass Schneider durch diese Entscheidung die Hochzeit mit der Frau, die er liebte, um ein weiteres Jahr zurückstellte, darf man diese Frage wohl bejahen. Wie Margarethe sich dabei fühlte, muss offen bleiben; auf jeden Fall wartete sie – einmal mehr – auf ihren Bräutigam. Sie liebte eben einen Mann, der schon als Student die Devise aufgestellt hatte: „Wenn du unentschlossen bist zwischen zwei Dingen, so wähle das dir weniger Bequeme.“

1926 wurde Schneider als Nachfolger seines plötzlich verstorbenen Vaters zum Pfarrer von Hochelheim gewählt. Nun endlich war er finanziell dazu fähig eine Familie zu ernähren – und heiratete seine Margarethe. Die Jahre als Pfarrer in Hochelheim stehen in einer eigenartigen Spannung: Schneider – inzwischen endgültig vom Bibelkritiker zum Bibelgläubigen geworden – ist einerseits persönlich gewinnend und sehr herzlich: So turnt er beispielsweise mit den Jugendlichen seiner Gemeinde und geht mit ihnen wandern. Andererseits nimmt seine Leidenschaft für die Wahrheit mitunter harte und gesetzliche Züge an: Nach dem Gottesdienst führte er einen Gemeindeunterricht durch – wer dreimal fehlte, durfte ein Jahr lang nicht Taufpate werden. Wahrscheinlich wundern wir uns heute darüber, dass eine Gemeinde solch eine strenge Führung über sich ergehen ließ und sagen: Naja, das war halt früher so – aber das stimmt nicht: Schneider stand mit seiner Kompromisslosigkeit auch vor 90 Jahren ziemlich alleine da. Einmal reichte es sogar der Gemeindeschwester! Schneider wurde zu einer jungen Frau gerufen, die im Sterben lag – sie ließ eine Schar unversorgter Kinder zurück. Pastor Schneider erklärte der Sterbenden, sie solle sich nun „ungesäumt mit Freude zu einem seligen Sterben rüsten“ – die Diakonisse redete ihm ins Gewissen: Das ist unmenschlich! Aber auf Schneider machte ihr Protest keinen Eindruck! Er blieb dabei: Wer an Jesus und die Auferstehung der Toten glaubt, kann flugs und fröhlich sterben.

Als Adolf Hitler am 30. Januar 1933 von Reichspräsident Paul von Hindenburg zum Kanzler ernannt wurde, begeisterte sich Schneider zunächst vorbehaltlos für ihn und seine Politik: „Man hat unbedingt den Eindruck, dass Hitler vom Geist Gottes bei seinem Reden und Handeln sich leiten lässt.“ Er glaubte, die „Volksgemeinschaft“, von der Hitler sprach, würde der Kirche missionarische Chancen eröffnen und schloss sich deshalb der Gruppe der Nationalsozialisten in der evangelischen Kirche an, die sich „Deutsche Christen“ nannten. Nach wenig mehr als einem halben Jahr erkannte er seinen fatalen Irrtum – und tat vor seiner Gemeinde öffentlich Buße! Schneider kannte keine Kompromisse, wenn es um die Wahrheit ging – auch nicht gegenüber sich selbst. Mag er den Hochelheimern oft ein strenger Hirte gewesen sein – ein treuer Hirte war er allemal. Als treuer Hirte wehrte er sich nach seiner Erkenntnis, dass der Nationalsozialismus zutiefst unchristlich ist, gegen die Übernahme der Gemeindejugend durch die HJ. Schneider verweigerte den Gruß: „Heil Hitler“ und erklärte offen: Heil gibt es nur bei Christus. Ja, er sprach in seinen Predigten das gottlose Treiben von Nazi-Größen an. Schneiders Gegner in Hochelheim sahen nun die Chance, sich ihres strengen Pastors zu entledigen. Schließlich richtete der Kirchenvorstand (Presbyterium) eine Beschwerde an die Kirchenleitung. Landesbischof Dr. Oberheid, ein fanatischer Gefolgsmann Hitlers, nutzte die günstige Gelegenheit und versetzte Schneider in die Kleinpfarrei Dickenschied-Womrath. Die Strafe erwies sich als Gottesgeschenk: Denn hier waren die Gemeinden, die den Glaubensmut hatten, mit ihrem Pastor an der Spitze die Angriffe auf das Evangelium abzuwehren.
Der erste der vielen Angriffe erfolgte einen Monat nach Schneiders Einführung. Schneider beerdigte einen Hitlerjungen. In seinem Nachruf erklärte der Kreisleiter der NSDAP, der Junge sei jetzt in die himmlische SA eingetreten („himmlischer Sturm Horst Wessels“). Eine himmlische SA – das ist Gotteslästerung! Schneider reagierte sofort und entschlossen – er unterband die Rede: „Dies ist eine kirchliche Feier, und ich bin als Pfarrer für die reine Lehre der Hl. Schrift verantwortlich.“ Die reine Lehre – da ist sie wieder, die Leidenschaft Schneiders für die Wahrheit! – und die Verpflichtung des Hirten, seine Herde nicht auf den falschen Weg geraten zu lassen. Eine erste – noch kurze – Haft war die Folge. So sollte es von nun an weitergehen: Konflikt mit den Behörden – Verhaftung des Pfarrers – Entlassung – neuer Konflikt – neue Verhaftung usw. Die Gründe waren im Einzelnen verschieden – aber sie entsprangen immer der gleichen Haltung: Der Hirte muss der Herde mit der Wahrheit dienen – koste es, was es wolle. In seiner Predigt zum Jahreswechsel 1936/37 führte Schneider aus: „Wir sind heute sonderlich gerufen, für die Ausbreitung des Reiches Gottes dienstbereit zu sein, unser Gut und unsre Existenz, unsre Fürbitte und unser Bekennen und Zeugen, unsern Ruhm und unsern guten Namen, uns selber leidend, und wenn es sein muss, sterbend [dafür] einzusetzen.“ Ein schwieriger Satz – aber die Gemeinde verstand ihren Pfarrer nur zu gut: Wir müssen uns für das Reich Gottes einsetzen, selbst wenn es bedeutet, dass wir alles verlieren – Besitz, Gesundheit und Leben. Wer denkt hier nicht an die letzte Strophe von Luthers Kampflied: Ein feste Burg: „Nehmen sie den Leib, / Gut, Ehr, Kind und Weib: / lass fahren dahin, / sie haben’s kein‘ Gewinn / das Reich muss uns doch bleiben.“ Schneider ging diesen Weg unbeirrt weiter.

Schon lange war er von der Notwendigkeit der Kirchenzucht überzeugt: Das heißt, wenn ein Schaf der Herde vom rechten Weg abirrt, muss es durch den Hirten gestraft werden, damit ihm nicht die ganze Herde in den Abgrund folgt. Jetzt ging es nicht mehr darum, Menschen zur Buße zu führen, die die Christenlehre schwänzten, wie in Hochelheim – sondern fanatische Nazis die Ehrfurcht vor Gott und seiner Kirche zu lehren. Schneider schloss vier besonders kirchenfeindliche Nationalsozialisten seiner Pfarrei vom Abendmahl aus – er las ihre Exkommunikation von der Kanzel aus der Gemeinde vor. Dieser unerhörte Schritt – der auch die meisten Bekenntnispfarrer erschütterte – schlug Wellen bis in die Berliner Reichskanzlei: Ein kleiner Dorfpfarrer stellt sich gegen den Führer und die Partei! Ganz von selbst drängt sich hier der Vergleich mit dem armseligen Mönch Luther auf, der Papst und Kaiser widerstand. 

Drei Monate Gefängnis waren die Folge. Dann erhielt Schneider den Bescheid: Er muss das Rheinland verlassen! Für die Nazis war dies eine so milde Strafe, dass sie einer Begnadigung nahe kam. Das einzige, was von Schneider verlangt wurde, war, seine Unterschrift unter den Ausweisungsbefehl zu setzen und nicht mehr in seine Gemeinde Dickenschied-Womrath zurückzukehren. Was sollte er tun? Unterschreiben – und damit auf sein Hirtenamt an seiner kleinen Hunsrückgemeinde verzichten? Oder nicht unterschreiben – was bedeutete: Er blieb zwar Pastor von Dickenschied-Womrath, würde aber sein Hirtenamt nicht ausüben können, denn er würde ins Gefängnis, gar ins KZ kommen. Schneider war ein treuer Hirte, er war kein Mietling! Aber konnte man von ihm verlangen, deshalb die Ausweisung zu verweigern? Mehr noch: War es nicht Wahnsinn, als Pfarrer einer  kleinen Gemeinde im Rheinland zu sterben – wenn man als Pfarrer einer großen Gemeinde in Württemberg oder in Bayern leben konnte? Leben – nicht um sich ängstlich anzupassen, sondern leben, um weiter zu kämpfen, weiter unerschrocken das Evangelium zu lehren, weiter am Reich Gottes zu bauen!

Schneider entschloss sich dennoch, in seine Gemeinden zurückzukehren. Auf dem Weg übernachtete er bei seinem Freund Hermann Mettel, dem Direktor der Stadtmission Kirn. Mettel wollte ihn abhalten: „Muss es denn wirklich sein?“ Statt zu antworten griff Schneider zu seiner Taschenbibel und las seinem Freund unsere Bibelstelle vor: Ich bin der gute Hirte. Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe. Der Mietling aber, der nicht Hirte ist, dem die Schafe nicht gehören, sieht den Wolf kommen und verlässt die Schafe und flieht …
Mehr war für ihn nicht zu sagen! Tags darauf machte er sich auf nach Dickenschied, um den Erntedankgottesdienst mit der Gemeinde zu feiern. Bevor er noch seine Kirche erreichte, wurde er verhaftet und ins Gefängnis nach Koblenz gebracht! Seine Frau, die ihn dort besuchen durfte, berichtet: „Paul weiß, dass er heute noch frei ist, wenn er sich verpflichtet, dem Ausweisungsbefehl Folge zu leisten. Das Herz ist uns ganz schwer. Ich streichle Paul leise: „Wie haben ich dich so lieb!“ – da erschüttert ihn tiefes Weinen. Wir reden nichts mehr … Stammelnd beten wir das Vaterunser miteinander. Die Zeit ist abgelaufen. Ein schmerzdurchwühlter Mann wird abgeführt.“

Der gute Hirte lässt sein Leben für die Schafe – Paul Schneider war zu diesem letzten Schritt entschlossen! Die Schergen Hitlers brachten Schneider ins  KZ Buchenwald – und hier verdiente er sich seinen Ehrennamen: Der Prediger von Buchenwald. Immer wieder ließ er seine mächtige Stimme aus dem Bunker, in dem er in Einzelhaft gehalten wurde, erschallen. In Mitgefangener erinnerte sich an einige seiner Worte:  „Harret aus, Brüder, in diesem Kampf! Gott gibt euch die Kraft, vertraut auf ihn, nicht auf Hitler!“ Schneider wurde geschlagen, er wurde gefoltert, man ließ ihn hungern, aber man brachte ihn nicht zum Schweigen. In den anderthalb Jahren, die Schneider das Konzentrationslager Buchenwald überlebte, wurde er zum Hirten seiner Mitgefangenen: Nicht nur für Christen aller Konfessionen, sondern auch für Juden, ja, selbst für Atheisten. Kommunisten, die über den Glauben „als Opium für das Volk“ spotteten, schöpften aus den Predigten dieses Zeugen Jesu Kraft und Hoffnung. Ein ehemaliger Häftling erinnert sich: „An den höchsten Festtagen ertönte während der Stille des Abzählens plötzlich die mächtige Stimme Pfarrer Schneiders durch die dumpfen Gitter des ebenerdigen Bunkers [in dem er in Einzelhaft gehalten wurde]. Er hielt wie ein Prophet seine Festtagspredigt. Bis ins Innerste aufgewühlt durch den Mut und die Kraft dieses gewaltigen Willens, standen die langen Reihen der Gefangenen. Mehr als einige Sätze konnte er nie sprechen. Dann klatschten schon die Prügel der Bunkerwächter auf ihn nieder oder ein roher Faustschlag schmetterte seinen zermarterten Körper in eine Ecke des Bunkers.“
Die KZ-Wachen fürchteten Schneider mehr als er sie. Am 18. Juli 1939 wurde er vom Lagerarzt mit einer Todesspritze ermordet. Der Sarg mit dem Leichnam wurde der Familie zur Bestattung übergeben. Offiziell war der „treue Hirte“ einem Herzversagen erlegen. Er starb als Pastor der Pfarrei Dickenschied-Womrath. Für seine Herde hatte er gelebt – für sie hatte er nun auch den Tod auf sich genommen.

Gemeinde des Herrn Jesus Christus, Schwestern und Brüder,
„Jesu, dir leb‘ ich; Jesu, dir sterb‘ ich; Jesu, dein bin ich, tot und lebendig!“
Mit diesen Worten beendete Pastor Johannes Schlingensiepen seine Beerdigungspredigt für Paul Schneider am 21. Juli 1939 in der Kirche von Dickenschied. Dann setzte sich ein gewaltiger Leichenzug in Bewegung: Die Kirchenvorsteher von Dickenschied trugen den Sarg ihres ermordeten Pastors, ungefähr 200 Pfarrer im Talar folgten ihm nach, die Glieder seiner beiden kleinen Dorfgemeinden, Menschen aus dem Umland, Abordnungen von Bekenntniskirchen und –gruppen aus dem ganzen Reich.
Die Beamten von Hitlers gefürchteter Geheimer Staatspolizei, die die Beerdigung überwachten, hielten in ihrem Protokoll fest: „So werden Könige beerdigt“.
Ich bin der gute Hirte und kenne die Meinen, und die Meinen kennen mich, wie mich mein Vater kennt, und ich kenne den Vater. Und ich lasse mein Leben für die Schafe. Amen.

 Aufschrift auf dem Grab von Paul Schneider in Dickenschied: oben: „Christus ist darum für alle gestorben, auf daß die, so da leben, hinfort nicht sich selbst leben, sondern dem, der für sie gestorben und auferstanden ist. 2 Cor V,15“
Unter dem Namen und den Lebensdaten steht der Satz aus 2. Kor. 5,14: „Die Liebe Christi dringet uns also.“)