Wenn mich die weltpolitische Lage deprimiert, denke ich immer an die Ankunftshalle im Flughafen Heathrow. Es wird allgemein behauptet, wir lebten in einer Welt voller Hass und Habgier, aber das stimmt nicht. Im Gegenteil, mir scheint, wir sind überall von Liebe umgeben. Oft ist sie weder besonders glanzvoll noch spektakulär, aber sie ist immer da. Väter und Söhne, Mütter und Töchter, Ehepaare, frisch Verliebte, alte Freunde. Als die Flugzeuge ins World Trade Center flogen, gab es unter den Anrufen der Menschen an Bord meines Wissens nach keine Hass- oder Rachebotschaften. Es waren alles Botschaften der Liebe. Ich glaube, wer darauf achtet wird feststellen können, dass Liebe tatsächlich überall zu finden ist.
Gemeinde des Herrn Jesus Christus, Schwestern und Brüder,
vielleicht kennt Ihr den Weihnachtsfilm: „Tatsächlich … Liebe“. Er beginnt mit dem Vorspann, den ich gerade vorgelesen habe. Zu diesen Worten sieht man Bilder aus dem Ankunftsbereich des Flughafens – Menschen, die aufeinander warten, sich entgegenlaufen, sich um den Hals fallen, die eine kräftige Umarmung, einen liebevollen Kuss tauschen: Väter und Söhne, Mütter und Töchter, Ehepaare, frisch Verliebte, alte Freunde. Der Film selbst ist very british: skurril, spöttisch, anzüglich, kitschig, hemmungslos albern und sogar ein bisschen traurig … Ob man ihn zum Brüllen komisch findet, sich Tränen der Rührung aus den Augenwinkeln wischen muss oder nach 10 Minuten genervt den Fernseher abschaltet ist Geschmackssache! Aber wie auch immer man den Film selbst findet – der Vorspann mit seiner Botschaft von der Allgegenwart der Liebe ist sehenswert. Die Liebe ist allgegenwärtig und sie triumphiert gerade im Angesicht des Todes über alle anderen Regungen des menschlichen Herzens – diese Botschaft ist grandios, sie ist wahr, sie ist zutiefst biblisch und sie steht im Zentrum des Weihnachtsfests.
Gott, der – wie der Apostel Johannes schreibt – durch und durch „Liebe ist“ wird an Weihnachten Mensch. Gott liebt uns und geht uns verlorenen Menschen nach, ja, er rennt uns hinterher: bis hinein in die Dunkelheit einer bösen Zeit, in die Armut einer einfachen Familie, in die Enge einer Futterkrippe, aus der die Kühe fressen.
Jesus will uns mit und in dieser Welt nicht allein lassen – er hält es nicht aus, dem Elend, dem Schmerz und der erdrückenden Schuld seiner Menschen aus einem fernen Himmel zuzuschauen – es drängt ihn zu uns, hinein in unsere Welt, hinein in unser Schicksal! Nur als Mensch unter Menschen kann der wahre Gott aus Liebe mittragen, was er in seiner für uns unergründlichen Allmacht über uns verhängt.
Schwestern und Brüder,
wir begreifen nicht, warum wir in einer deprimierenden Weltlage leben müssen, warum im Plan des allmächtigen Gottes Krankheit, Krieg und Katastrophen vorkommen!
Wir begreifen nicht, warum ungezählte Ukrainer in den letzten zweieinhalb Jahren zu Opfern des russischen Angriffskrieges werden mussten. Warum unsere Wirtschaft, auf die wir einst so stolz waren, schwächelt und viele Menschen, trotz Einsatz und Fleiß, ihre Arbeit verlieren. Warum Juden in ganz Europa Angst vor Ausschreitungen und Gewalt haben müssen. Warum die Vogelgrippe das Gespenst von Corona beschwören muss, das uns alle noch im Nacken sitzt. Warum Weihnachtsmärkte, wo alle zusammenkommen: Christen, Juden, Muslime, Buddhisten, Menschen, die an gar nichts glauben oder an etwas ganz anderes, Kinder, Jugendliche, Menschen in der Lebensmitte und alte Leute, Deutsche, Zugewanderte, aber auch Touristen, die um die halbe Welt geflogen sind, um einmal im Leben den Prolog des Nürnberger Christkinds zu hören, in Hochsicherheitsbereiche verwandelt werden müssen, um Terroranschläge zu verhindern … Ja: Warum?
Wenn jemand mich ernsthaft nach diesem „Warum?“ fragt, dann kann ich nur antworten: „Diese Frage und die in ihr enthaltenen Zweifel zerschmettere ich am harten Holz der Krippe!“ Gott in seiner Allmacht und seine Weltregierung kann keiner von uns fassen – aber in der Krippe finden wir den menschenfreundlichen Gott! Gott, der sich Schmerz, Hunger, Gewalt und Tod selbst ausliefert: aus Liebe! Er liebt nicht nur in Worten und Taten, sondern mit seinem ganzen Leben! Leben und Lieben, das ist bei Gott EINS!
Gottes Liebe weicht dem Leid nicht aus – sondern bringt ihn genau dorthin, wo Menschen leiden.
Und so sollen auch wir Christen die Armut des anderen, die Trauer des anderen, das Leid des anderen so spüren, als wären wir selbst betroffen – und ihm helfen. Wir sollen nicht nur Liebeserklärungen abgeben, wir sollen uns mit unseren Taten dafür einsetzen, dass diese Welt ein liebevollerer Ort wird.
Schwestern und Brüder,
den absoluten Klassiker unter den Weihnachtsfilmen kennt ihr sicher alle: den „Kleinen Lord“. Lord Fauntleroy hat von seiner Mutter das Leitwort mitbekommen: „Jeder sollte mit seinem Leben die Welt ein ganz klein bisschen besser machen“ – und er bemüht sich darum, aus schlichtem kindlichen Mitgefühl. Ob er seinem Freund, dem Schuhputzer Dick, das Geld gibt, um seinen trunksüchtigen Geschäftspartner auszuzahlen, einen gehbehinderten Jungen auf seinem Pony ins Dorf bringt oder dem unglücklichen Pächter Higgins mit seinen kranken Kindern Anteilnahme zeigt – ganz automatisch gehen Taten der Liebe aus seinem liebenden Herzen hervor. Die Liebe seines Enkelsohns verwandelt schließlich auch den verbitterten, verhärteten und verschlossenen Earl von Dorincourt. Der Earl versteht in einer zu Tränen rührenden Szene: „Ich bin kein Mensch zum Gernhaben – aber er vermag mich gern zu haben“ – und das, macht sein eigenes enges Herz weit.
Ja, die Liebe, die aus ehrlichem Herzen kommt, verwandelt Menschen.
Das gilt zu allererst von der Liebe Gottes zu uns. Indem Gott uns liebt – uns unbedingt, absolut und vollkommen liebt – macht er uns fähig zur Liebe. Gottes Liebe zu uns ist bedingungslos, aber sie ist nicht folgenfrei – denn wenn wir uns seine Liebe auch nicht verdienen können, werden wir als Geliebte doch selber lieben, werden wir seine Liebe weitergeben!
Wir sind dankbar für die vielen, die möglich gemacht haben, dass wir auch in diesem Winter an das Lyzeum 4 in Novohrad in der Ukraine eine Hilfslieferung mit Lebensmitteln, Medikamenten, warmen Decken und Schlafsäcken schicken konnten.
Schwestern und Brüder,
kommen wir zurück zu: „Tatsächlich … Liebe“. Der Film hat nicht nur einen genialen Vorspann, sondern auch einen großartigen Schluss. Wieder nimmt er uns mit in die Ankunftsfalle des Flughafens Heathrow: Wir sehen Menschen, die aufeinander warten, sich entgegenlaufen, sich um den Hals fallen, die eine kräftige Umarmung, einen liebevollen Kuss tauschen: Väter und Söhne, Mütter und Töchter, Ehepaare, frisch Verliebte, alte Freunde. Dazu läuft der Song der Beach Boys: „God only knows what I’d be without you“ – „Gott allein weiß, was ohne dich aus mir würde.“
Auch das dürfen wir ganz im Sinne der Bibel hören: Gott allein weiß, was ohne Jesus aus uns werden würde. Ohne seine Menschwerdung, seine Geburt im Stall von Bethlehem, seine Botschaft von Gottes Nähe, seine Zuwendung zu den Kindern und Alten, zu armen, kranken, behinderten und verzweifelten Menschen, seine Hingabe am Kreuz, seine Auferstehung, kurz: ohne seine unfassbare Liebe, die uns herausliebt aus unserer Verzweiflung über diese Welt, aus unserer eigenen Lieblosigkeit, aus der Gottferne, aus dem Tod, der uns – manche früher, manche später – alle trifft!
God only knows – Gott allein weiß, was ohne Jesus aus uns würde – und, so paradox das klingt: Gott will es gar nicht wissen! Er will nicht zulassen, dass wir diese Leere, Einsamkeit, Verlorenheit erleben müssen: darum schenkt er uns an Weihnachten Jesus, seinen Sohn.
SEINE Liebe ist seit Weihnachten tatsächlich überall zu finden. Amen.
Allen ein frohes und gesegnetes Weihnachtsfest und einen guten Start in das Jahr 2026,
Euer Pfarrer Martin Fromm
