Liebe Schwestern und Brüder,
für unsere Pfarrei ist 2018 ein Jahr großer Jubiläen: In Rüdenhausen feiert die Bürgerwehr ihr 400-jähriges Bestehen, in Wiesentheid erinnert man in einer Fülle von Veranstaltungen an die erste urkundliche Erwähnung des Ortes vor 1.100 Jahren. Beide Jubiläen sind auch für uns ein Anlass zurückzuschauen. Wie erging es der Rüdenhäuser Kirchengemeinde im 30-jährigen Krieg, der den Anlass für die Gründung der Bürgerwehr bildete? Wie entstand und entwickelte sich die heutige evangelische Kirchengemeinde Wiesentheid? Beiden Fragen gehen die im Folgenden abgedruckten Predigten nach, die ich anlässlich des Wiesentheider Sommerfestes und der Rüdenhäuser Kirchweih gehalten habe.
Der Blick zurück ist immer auch ein Blick auf die Grundlagen, denen eine Gemeinde verpflichtet ist, auf Traditionen, die weitergeführt werden, aber auch ein Aufspüren sonst unbewusst bleibender Prägungen. Unsere Pfarrei, deren zwei Kirchengemeinden so ganz unterschiedlich sind, wird geeint dabei durch den einen Herrn Jesus Christus, den Glauben an das Evangelium und das bewusste Festhalten am lutherischen Bekenntnis.
Der Blick zurück soll auch dem Blick nach vorn größere Klarsicht verleihen: Am 21. Oktober wählen wir die neuen Kirchenvorstände. Wir sind froh und dankbar, dass sich viele Kandidatinnen und Kandidaten bereit gefunden haben, sich für die Kirchengemeinden in der Übernahme von Leitungsverantwortung zu engagieren. Dies ist wichtig, ebenso Ihre Beteiligung an der Wahl: Unsere Gemeinden haben nicht nur eine bedeutende Vergangenheit, sie sollen auch eine große Zukunft haben.
Unsere Gemeinden Rüdenhausen und Wiesentheid sollen heute und künftig die Ehre ihres Herrn bezeugen: Jesus Christus gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit. Amen.
Gott befohlen,
Ihr Pfarrer Martin Fromm
Gemeinde unseres Herrn Jesus Christus, Schwestern und Brüder,
1.100 Jahre sind seit der ersten urkundlichen Erwähnung Wiesentheids vergangen – Grund genug für ein großes Fest, das das ganze Jahr über andauert. Was sind gemessen an diesen 1.100 Jahren schon die wenigen Jahre, die es unsere lutherische Ortskirchengemeinde gibt? Aber damit stellt sich auch schon die Frage: Seit wann gibt es sie eigentlich? Einige wenige lutherische Christen lebten seit – grob gesprochen – 160 Jahren im Ort: Kirchlich betreut von und nach dem Tode begraben in Rüdenhausen. In den Aufzeichnungen von Pfarrer Carl Rappold (1871-1881 Pfarrer in Rüdenhausen) heißt es: „1860 11 December wurden auf allerhöchste Entschließung die Protestanten Wiesentheids aus der katholischen Pfarrei Wiesentheid auf ihre Bitte hin in hiesige Pfarrei umgepfarrt …“ Sollen wir dieses Datum nehmen und sagen: Wo lutherische Christen leben, da ist auch Gemeinde – wie Jesus, unser Herr, spricht: „Wo zwei oder drei versammelt sind in meinem Namen, da bin ich mitten unter ihnen?“
Oder legen wir das Entstehen unserer Gemeinde auf den 07. September 1930 – als mit der Einweihung des Betsaals erstmals eine eigene Gottesdienststätte für Wiesentheids Lutheraner zur Verfügung stand? Unser traditionelles Sommerfest hält ein anderes Datum in Ehren: den 20. Juli. An diesem Tag im Jahr 1952 wurde der Grundstein der heutigen Gnadenkirche gelegt.
Wie auch immer: Gemessen an den 1.100 Jahren Wiesentheids ist unsere Ortsgemeinde jung – wenn wir das Datum ihrer Eigenständigkeit zugrundelegen, ist sie sogar gerade erst den Kinderschuhen entwachsen: Am 01. Oktober 2006 wurde die Kirchengemeinde Wiesentheid konstituiert – mitten in der Vakanzzeit, nach dem Weggang von Hanns-Martin Krahnert. In diesem Sinne bin ich der erste Pfarrer einer evangelisch-lutherischen Kirchengemeinde Wiesentheid. Andererseits stimmt selbst das historisch nicht – denn von ca. 1558 bis 1627 war Wiesentheid evangelisch – Ort, Gemeinde und der Vorgängerbau der Mauritiuskirche – und in dieser Zeit amtierten nacheinander 8 evangelische Pfarrer hier, 2 weitere versorgten die Gemeinde von Rüdenhausen, bzw. Wiesenbronn aus: Die Reihe der evangelischen Pfarrer Wiesentheids begann mit Erhard Weicard.
Aber vielleicht ist es gemessen an der Ewigkeit, der wir Christen entgegen gehen, auch gar nicht so wichtig, wie alt oder jung unsere Gemeinde genau ist. Hauptsache, es gibt sie – nein, Hauptsache: Gott wirkt in ihr: Gott lehrt uns in ihr sein Wort, schenkt uns ihr den Glauben, teilt uns in ihr das Brot des Lebens und den Kelch des Heiles aus. So wollen wir unter dem Leitwort aus dem 26. Psalm: „HERR, ich habe lieb die Stätte deines Hauses und den Ort, da deine Ehre wohnt“ auf die Geschichte unserer Gemeinde zurückblicken.
Schwestern und Brüder,
im Jahr 1919 erwähnt Pfarrer Theodor Krafft Wiesentheid in seiner Pfarrchronik: Allerdings nicht die evangelischen Wiesentheider – sondern die Wiesentheider Sozialisten. Pfarrer Krafft war – das zeigen seine Aufzeichnungen – ein glühender Patriot und Anhänger des Kaisers, der durch die Revolution nach dem 1. Weltkrieg gestürzt worden war. Die Jahre nach dem Kriegsende waren chaotisch, es gärte überall im Volk.
Auch in unserer beschaulichen Gegend gab es Kommunisten und Sozialisten – und sie wollten den 1. Mai 1919 mit einem Ball feiern. Dieser Ball war nach Einschätzung des Pfarrers deutlich mehr als ein Tanzvergnügen, nämlich eine politische Demonstration, ja, fast schon ein Aufstand. Pfarrer Krafft schreibt: „Einige Sozialisten [aus Rüdenhausen] glaubten an diesem Tage einen Ball veranstalten zu müssen, was ihnen jedoch – da niemand von der Bürgerschaft sich beteiligte – schlecht gelang. Früh zogen sie vereinigt mit den Genossen Wiesentheids durchs Dorf; nachmittags schloss sich Castell an. Immer mehr verebbte die Revolutionswelle; die Gemeindewahlen schließlich zeigten, dass der geschlossene, beharrliche Wille der „Guten“ noch etwas vermag.“ Die Weltrevolution dauerte in Wiesentheid, Rüdenhausen und Castell also offenbar nur einen Tag!
Nach dem I. Weltkrieg zogen etwa 20 evangelische Familien nach Wiesentheid, sei es als Geschäftsleute, sei es durch Versetzung von Beamten, sei es infolge konfessionsverschiedener Ehen. Ihre Pfarrkirche war St. Peter und Paul in Rüdenhausen. Nachdem sie sich lange vergeblich um einen Gottesdienstraum bemüht hatten, weil den Alten und Kranken und den Kindern der Weg nach Rüdenhausen zu beschwerlich war, wurde Friedrich Arold, der von 1926 bis 1934 hier als Pfarrer wirkte, die alte Postomnibus-Garage in der Geesdorfer Straße 222 angeboten. Arold mietete den baufälligen Raum – gegen erhebliche Widerstände des Rüdenhäuser Kirchenvorstands. Pfarrer Arold hält in seiner Pfarrbeschreibung fest: „Erst nach vielem Wenn und Aber hat sich der Kirchenvorstand schließlich zur Übernahme der monatlichen Miete von 20,- M durchgerungen.“
1927 machte Friedrich Arold, der von sich schreibt, er sei von seinem Plan einer eigenen Predigtstation in Wiesentheid „besessen“ gewesen, eine Zählung der Evangelischen. Zu seiner eigenen und zur allgemeinen Überraschung gab es in Wiesentheid 154 Lutheraner. Unter ihnen war ein Teil so begeistert bei der Sache, dass er die anderen mitriss. Pfarrer Arold schreibt: „Selbst die noch abseits Stehenden, die Misstrauischen, die Zauderer und die Nörgler wurden von dieser allgemeinen Arbeits- und Opferfreudigkeit erfasst, sogar Katholiken haben sich zur Verfügung gestellt. Mit vielen ehrenamtlichen Helfern, vielen Geld- und Sachspenden wurde der Raum auf Vordermann gebracht – am 18.05.1930 konnte der erste Gottesdienst im neuen Betsaal – noch ohne Altar und Bänke – gehalten werden.
Aber das blieb nicht lange so! Ein katholischer Schreiner fertigte für die provisorische Kirche Altar und Bänke. Die Wiesenbroner Kirchengemeinde stiftete alte Paramente, die von Frau Arold umgearbeitet wurden. Aus der nicht mehr benutzten jüdischen Synagoge in Prichsenstadt kam die Kanzel, das Harmonium stellte die Diakonisse im Rüdenhäuser Kindergarten zur Verfügung … Am 07.09.1930 konnte richtig Einweihung gefeiert werden.“
Pfarrer Arold berichtet, dass die skeptischen Rüdenhäuser von dem Verhalten der Wiesentheider Katholiken anlässlich der evangelischen Betsaaleinweihung beschämt wurden: „Auf Veranlassung des katholischen Bürgermeisters haben die katholischen Einwohner die Hauptstraße geflaggt, auch das Pfarrhaus prangte in den päpstlichen Farben; nach Weise des Fronleichnamstages schmückten Birkenbäume, frisches Grün und Blumen die Häuser, die Hauptstraße selbst war mit Gras und Blumen bestreut.“
Als Nachfolger von Pfarrer Arold kam 1935 Hermann Dietzfelbinger nach Rüdenhausen, er blieb bis 1939 hier Pfarrer. Damals gab es in der Wiesentheider Gemeinde einige aus Norddeutschland zugezogene Deutsche Christen. Diese Deutschen Christen waren glühende Anhänger der Nazis, die die Bibel im Sinne des Nationalsozialismus umschreiben wollten. Ihr Herr sollte ein „heldischer, arischer Jesus sein“ – sie schreckten nicht davor zurück, die Irrlehre zu verkünden: „Der Heiland ist in der Tat der erste und größte Nationalsozialist aller Zeiten …“. Für Menschen jüdischer Herkunft sollte es in der deutschen Volkskirche, die ihnen vorschwebte, keinen Platz geben! Nicht Taufe und Glaube, sondern das deutsche Blut entschieden über die Zugehörigkeit zur deutschen Kirche. Jesus wurde von den Deutschen Christen verraten, das Evangelium mit Füßen getreten – und das Alte Testament wurde gleich ganz gestrichen. Mit diesen „Viehhändler und Zuhältergeschichten“ könne der deutsche Mensch nichts anfangen. So schmerzhaft die Erinnerung an diese dunkle Seite unserer Geschichte ist – der weitaus größte Teil der Wiesentheider Lutheraner blieb standhaft und folgte entschlossen Pfarrer Dietzfelbinger, der gestützt auf die Heilige Schrift und das Bekenntnis der Kirche die Deutschen Christen aus der Gemeinde heraus drängte. Eine Zeitlang hielten sie noch eigene Versammlungen ab – dann brach ihre Bewegung mangels Anklang zusammen.
Pfarrer Dietzfelbinger aber galt seitdem als politisch unzuverlässig – seine Predigten wurden von der Polizei überwacht. Am Reformationstag 1935 wegen Kanzelmissbrauchs angezeigt, er hatte ausgeführt: Es geht im Konflikt zwischen Kirche und Nationalsozialismus nicht nur um die Rechte der Kirche, sondern um Tieferes: „Wir sehen, wie ein heißer Kampf entbrannt ist, ein Kampf zwischen Christus und dem Antichrist …“
Als er in einer weiteren Predigt scharf verurteilte, dass in Wiesenbronn eine Puppe, die einen Juden darstellen sollte, am Galgen aufgehängt worden war, musste er sich in Kitzingen vor dem Amtsgericht verantworten. Aber damals gab es noch rechtlich denkende und mutige Juristen in Deutschland: Das Verfahren gegen Dietzfelbinger wurde nach einiger Zeit eingestellt. Ein Freund schrieb ihm daraufhin: „dass Gott seine rettenden Engel wohl auch in die Gestalt von Amtsgerichtsräten kleiden könne.“
Trotz der schweren Zeit lebte der Geist des Aufbruchs in der Wiesentheider Gemeinde. Der am 15.02.1931 gegründete Kirchenbauverein, verfolgte hartnäckig sein Ziel, der Gemeinde ein eigenes Gotteshaus zu errichten. Aber man rieb sich auf in der Diskussion mit dem Landeskirchenamt um den geeigneten Bauplatz. Nüchtern hält Dietzfelbinger in seinen Lebenserinnerungen fest: „Über den Auseinandersetzungen verging die Zeit und es kam der Krieg.“
Pfarrer Dietzfelbinger wechselte 1939 als theologischer Hilfsarbeiter ins Landeskirchenamt – hinter der seltsamen Bezeichnung verbarg sich damals der Assistent des Landesbischofs, Dr. Meiser. Ihm folgte Wilhelm Schmerl. Aber schon im Sommer 1940 wurde Pfarrer Schmerl zum Kriegsdienst eingezogen. Die Pfarrei Rüdenhausen wurde für die Vertretungszeit aufgeteilt – Pfarrer Luther aus Abtswind kümmerte sich um die evangelischen Wiesentheider. Aus dieser Zeit haben wir kaum Nachrichten – die Chronik der Pfarrei führte Dekan Mebs weiter, der nur für Rüdenhausen zuständig war. Er erwähnt aber, dass in Wiesentheid am 13. April 1945 ein gefallener evangelischer Feldwebel der US-Armee beerdigt wurde – später wurde sein Leichnam von den amerikanischen Militärbehörden geborgen und an anderer Stelle wieder beigesetzt. Nach Kriegsende kamen viele Flüchtlinge nach Wiesentheid – die Gemeinde bemühte sich mit ihren sehr bescheidenen Kräften zu helfen. 1945 wurde ein Weihnachtstisch für die Bedürftigen eingerichtet. Aus der Gemeinde wurden u.a. gespendet: 3 Paar Holzschuhe, 1 Zahnbürste, 1 Bleistift und 2 Tüten Erbsen.
Die gemeinsame Not schweißte die Konfessionen in Wiesentheid zusammen: Die evangelische Gemeinde feierte ihre Gottesdienste in der Mauritiuskirche, weil der Betsaal von den Militärbehörden beschlagnahmt worden war.
Durch die Flüchtlinge nahm der Anteil der Lutheraner an der Bevölkerung stark zu – die Volksschulstunden des Religionsunterrichts mussten vervielfacht werden – hält Dekan Mebs fest. Und er merkt, wie sich der Ort durch den Zuzug verändert: „Ganz offensichtlich enzwickelt sich Wiesentheid zu einer Stadt. Wieweit diese Entwicklung gesundem Wachstum entspringt, das wird die Zeit lehren.“
Am 25. August 1948 durfte Pfarrer Schmerl nach vierjähriger russischer Kriegsgefangenschaft endlich heimkehren – er hatte sich durch ein Telegramm angekündigt. Dekan Mebs schreibt: „Beide Gemeinden sowohl Rüdenhausen wie auch Wiesentheid bereiteten ihm einen überaus herzlichen Empfang.“ Sofort nahm er die Aufgabe in Angriff, für die Wiesentheider Gemeinde eine Kirche zu errichten – wobei Impuls, Elan, Engagement und Bauplatz aus der Gemeinde selber kamen. Besonders der Sägewerksbesitzer Emil Dern, der seit Gründung dem Vorstand des Kirchenbauvereins angehört hatte, tat sich hervor: er stiftete u.a. den Bauplatz.
In über 1000 Häusern des ganzen Dekanats wurde 1952 gesammelt. Am 7. Juli wurde der erste Spatenstich zum Kirchenbau gemacht, am 20. Juli der Grundstein gelegt. Die aufgesetzte Urkunde hält fest: „So entsteht dieses Gotteshaus als ein Gemeinschaftswerk. Es soll ein aufgerichtetes Zeichen brüderlicher Liebe sein in einer liebeleeren Welt.“ Pfarrer Schmerl nimmt deutlich die Zeichen einer heraufziehenden neuen Zeit wahr – einer Zeit, die Gott aus ihrem Leben streichen will. Er schreibt in der Grundsteinlegungsurkunde: „Die christliche Botschaft wird verkündigt, viele Ohren bleiben ihr aber verschlossen. So verzieht auch Gottes Gericht nicht, das in einer zunehmenden Verderbnis der Sitten, einer grenzenlosen Ichsucht, einem maßlosen Vergnügungstaumel und einer heillosen Angst vor der Zukunft offenbar wird.“ Die Gnadenkirche soll aufgerichtetes Zeichen für Gott in einer gottfremden Welt sein.
Über den Namen „Gnadenkirche“ hält Pfarrer Schmerl in seiner Bauchronik: „Mag die Welt noch so gnadenlos mit uns umgehen – Jesus Christus handelt in diesem Haus gnädig mit uns. Mag die Welt mitleidlos an uns vorübergehen – in diesem Haus breitet der ewige Hohepriester mitleidend seine Hände aus über all unsere Schwachheit. Hier spricht er uns göttliche Vergebung zu. Weil uns aber aus diesem Haus so die Gnade Gottes entgegenströmt, soll diese Kirche Gnadenkirche heißen.“
Familie Schmerl schenkte der Gemeinde zur Einweihung der Kirche das wunderbar gearbeitete Kreuz des Würzburger Künstlers Heinz Schiestl, das heute an der Ostseite unserer Kirche hängt. Ein weiteres Geschenk an die Kirchengemeinde war das barocke Abendmahlsgemälde aus dem Umfeld von Januarius Zick – es wurde in den letzt Monaten dank vieler Spenden aufwändig restauriert und erstrahlt in neuem, altem Glanz.
Am 1. Advent 1952 konnte die Gnadenkirche durch Landesbischof Dr. Meiser geweiht werden. Pfarrer Arold, der 1931 den Kirchenbauverein mitbegründet hatte und nun zur Einweihung geladen war, schrieb in seinen Erinnerungen: „Ich war stolz auf meine Wiesentheider“.
Von 1953 bis 1964 bekleidete Wilhelm Friedrich Schott die Pfarrstelle. Im Februar 1963 begann der erste große Umbau der gerade erst 10 Jahre alten Gnadenkirche: „Der Altar sollte umgestaltet werden, die Holzkanzel entfernt und ein Ambo aufgemauert werden, und hinter dem Altar, an der großen Altarwand, sollte ein Bild moderner Kunst das himmlische Abendmahl darstellen.“ Der Georgensgmünder Maler Hans Trillitzsch wurde damit beauftragt. In die Zeit von Pfarrer Schott fällt ein weiteres starkes Wachstum der Gemeinde – und eine liturgische Belebung des kirchlichen Lebens. Er führte 1957 die festliche Gottesdienstordnung der Agende in Wiesentheid ein, die das alte lutherische Erbe aufnimmt, das im 19. Jahrhundert verloren gegangen war. Das heilige Abendmahl wurde nun mehrfach im Monat gefeiert – nicht mehr wie früher, nur nach Anmeldung und in schwarzem Sonntagsstaat. Pfarrer Schott, der in Rüdenhausen einen Kirchenchor gründete, hält in der Pfarrchronik fest, wie sich das geistliche Leben verändert: „Nun aber wurde das Abendmahl häufiger angeboten. Hierbei gingen die Sänger mit gutem Beispiel voran: mit hellen Sommerkleidern und ohne vorherige Anmeldung traten sie an den Tisch des Herrn. Sie sangen und sprachen laut und kräftig die noch ungewohnten liturgischen Stücke und vor allem das „Amen“. Nach anfänglichem Zögern gewöhnte sich die Gemeinde an die neue, das heißt aber, alte lutherische liturgische Ordnung.“
Pfarrer Ernst-Ludwig Werner, der am 16. März 1965 in der Pfarrei aufzog, setzte die begonnene liturgische Erneuerung des Gemeindelebens nachdrücklich fort.
In den 80er wurde unter Leitung von Pfr. Werner die Gnadenkirche abermals umgestaltet: „Der recht dunkle Chorraum wurde durch ein größeres Fenster aufgehellt. Alle Fenster der Kirche wurden erneuert nach den Entwürfen des Künstlers Willi Götz durch Firma Siegfried Krämer/ Wiesentheid. Der Altar wurde von der Wand abgerückt, ein Ambo (Kanzel) und ein Taufstein aus unterfränkischem Muschelkalk künstlerisch gefertigt. Mit dem Anbau wurden 2 Gemeinderäume mit Toiletten und Teeküche geschaffen.“
Pfr. Werner engagierte sich stark in der Jugendarbeit und knüpfte nach England, Schottland und Schweden. Der Ökumene widmete er besondere Aufmerksamkeit. In seiner Zeit wurde vom Kirchenvorstand beschlossen, dass die Gnadenkirche einem Heiligen zugewidmet wurde: dem Evangelisten Matthäus. Der Matthäustag liegt am 21. September – so nah am Mauritiustag, dass das Kirchweihfest seitdem gemeinsam begangen werden kann. An Erntedank 1999 endete die fast 35-jährige Amtszeit von Pfarrer Werner, unter sich die Wiesentheider Gemeinde fast verdoppelt hatte – heute macht sie 2/3 der Pfarreiglieder aus.
Im Februar 2000 kam Familie Krahnert nach Rüdenhausen. Pfarrer Hanns-Martin Krahnert schreibt über seine ersten Eindrücke in Wiesentheid in der Pfarrchronik: „Es gab den kleinen, kalten Gemeinderaum neben der dunklen, kalten Kirche. … Darum hatten wir bereits im April 2000 einen Ortstermin mit dem Gemeindereferat im Landeskirchenamt in Wiesentheid. Und die Not wurde erkannt. Wir planten ein Gemeindehaus, dann nach Bekanntwerden der Holzschutzmittelbelastung in Gemeinderaum und Kirche, ein ganz neues Gemeindezentrum. … Im März 2003 begannen die Bauarbeiten, im November war Einweihung unter Anwesenheit von Regionalbischof Helmut Völkel, 2004 wurde dann die Kirche umgestaltet: eine Heimat für das Wiesentheider Gemeindeleben. Ich denke, sehr gelungen, getragen von der ganzen (Wiesentheider) Gemeinde. … das Gemeindezentrum lebt!“ Der Bau des Gemeinzentrums wurde möglich durch den unermüdlichen Einsatz vieler Ehrenamtlicher – allen voran des Vertrauensmannes Walter Wirsing, der nicht nur ungezählte Stunden auf der Baustelle war, sondern auch mit seiner Begeisterung andere ansteckte. Für die reibungslose Zusammenarbeit mit dem Gemeinderat sorgte Bürgermeister Walter Hahn, dem die Kirchengemeinde viel zu verdanken hat. Pfarrer Krahnert weiter: „Zugleich wurde der Antrag auf Errichtung einer eigenen Kirchengemeinde Wiesentheid gestellt … Die Errichtung dieser Kirchengemeinde wird nun am 1. Oktober 2006 erfolgen – ohne mich.“ Pfarrer Krahnert verließ die Gemeinde Ende Juni Richtung Bad Aibling.
Der erste Pfarrer der eigenständigen Kirchengemeinde Wiesentheid – bin wie gesagt – ich.
Rüdenhausen:
Gemeinde des Herrn Jesus Christus, Schwestern und Brüder,
unsere Gemeinde hat in den letzten 100 Jahren viele Stürme durchgestanden, sie hat sich grundlegend verändert, sie hat in Wiesentheid ihre Kirche gebaut – und immer, immer wieder umgebaut. Unsere Gemeinde lebt. Sie lebt zur Ehre Gottes, sie lebt – so hoffe ich – für IHN. Und so wollen wir an diesem Tag Gott danken – der uns immer neu durch seinen Sohn Jesus Christus beschenkt! „HERR, ich habe lieb die Stätte deines Hauses und den Ort, da deine Ehre wohnt“ auf die Geschichte unserer Gemeinde zurückblicken.“ Amen.
Aus dem 2. Brief des Apostels Paulus an Timotheus im 4. Kapitel:
So ermahne ich dich inständig vor Gott und Christus Jesus, der da kommen wird zu richten die Lebenden und die Toten, und bei seiner Erscheinung und seinem Reich:
Predige das Wort, steh dazu, es sei zur Zeit oder zur Unzeit; weise zurecht, drohe, ermahne mit aller Geduld und Lehre. … Du aber sei nüchtern in allen Dingen, leide willig, tu das Werk eines Predigers des Evangeliums, richte dein Amt redlich aus.
Gemeinde des Herrn Jesus Christus, Schwestern und Brüder,
der 30-jährige Krieg tobte durch das Reich, fraß Menschen, zerstörte Städte und Dörfer, ließ ein verheertes Land hinter sich zurück. Wie aber erging es der evangelischen Kirchengemeinde in Rüdenhausen in dieser Zeit? Schon vor dem eigentlichen Kriegsbeginn in der ersten Hälfte des Jahres 1618 brachen im Reich die konfessionellen Gegensätze scharf hervor. 1616 bis 1617 wurde in der Kleinstadt Lauingen an der Donau mit Gewalt die Gegenreformation durchgeführt, weil der Landesherr Wolfgang Wilhelm von Pfalz-Neuburg katholisch geworden war. Seinen evangelischen Untertanen blieb nur die Wahl, katholisch zu werden oder die Heimat zu verlassen. Der Lauinger Pfarrer Heinrich Heilbrunner kam 1618 als Religionsflüchtling nach Rüdenhausen, wo es seit 1616 keinen Pfarrer gegeben hatte. Pfarrer Heilbrunner scheint also in Rüdenhausen mit offenen Armen empfangen worden zu sein, die Gemeinde begann gleich mit dem Bau eines neuen Pfarrhauses. Am 8. Juni 1621 wurde seine Tochter Anna getauft, Gevatterin, also Taufpatin, war niemand Geringeres als die Gräfin Anna Friederike. Pfarrer Heilbrunner war also offensichtlich sehr anerkannt im Ort.
Wie auch immer: Bald kam der große Krieg auch in die kleine Grafschaft. Schon 1618 wurde auf Befehl des Grafen Gottfried eine Bürgerwehr ins Leben gerufen, aber die Rüdenäuser zogen nicht recht mit: „Als Graf Gottfried den 63 mit Musketen versehenen Bauern in Rüdenhausen befahl, sie sollten sich unter Aufsicht seiner Schützenmeister im Schießen üben, fanden sie an diesen kriegerischen Übungen wenig Gefallen“ – heißt es in der Chronik, die Pfarrer Adolf Kirsch im frühen 20. Jahrhundert aus alten Quellen zusammenstellte. Was sollten auch ein paar brave Bauern, die sich um Weib und Kinder sorgten, gegen brutale, auf vielen Schlachtfeldern gestählte Söldner ausrichten, die weder Tod noch Teufel fürchteten und in riesigen Heerhaufen durchs Land zogen?
Die evangelische Gemeinde in Rüdenhausen hatte – wie Herrschaft und Dorf – sehr zu leiden. Besonders litten in dieser Zeit die Pfarrer. Gustav Freytag, ein Schriftsteller des 19. Jahrhunderts, trug in seinen „Bildern aus der deutschen Vergangenheit“ fränkische Pfarrersschicksale aus dem 30-jährigen Krieg zusammen. Das Ergebnis, zu dem er bei seiner Untersuchung kam, lässt sich sicher auch auf Rüdenhausen übertragen: „Die armen Dorfpfarrer waren den größten Gefahren ausgesetzt, den kaiserlichen Soldaten am meisten verhaßt, durch ihr Amt gezwungen, sich dem Feinde bemerkbar zu machen; die Roheiten, welche sie, ihre Frauen und Töchter zu erdulden hatten, trafen tödlich ihr Ansehen in der eigenen Gemeinde. Ihr Leben wurde durch die Beiträge ihrer Beichtkinder erhalten, sie waren nicht geübt und wenig geeignet, sich durch körperliche Arbeit die Tage zu fristen; unter jeder Verringerung des Wohlstandes, der Sittlichkeit, der Menschenzahl ihres Dorfes hatten sie am meisten zu leiden. Man muß einer sehr großen Mehrzahl von ihnen das Zeugnis geben, daß sie alle diese Gefahren als echte Streiter Christi ertrugen. Die meisten hielten bei ihren Gemeinden aus bis fast zum letzten Mann. Ihre Kirche wurde verwüstet und ausgebrannt, Kelch und Kruzifix gestohlen, der Altar durch eklen Unrat beschmutzt, die Glocken vom Turm geworfen und weggeführt. Da hielten sie den Gottesdienst in einer Scheuer, auf freiem Felde, im grünen Waldversteck.“
Von 1618 bis 1648 hatte Rüdenhausen vermutlich nur etwa die Hälfte der Zeit überhaupt einen Pfarrer – genauer muss man sagen: in diesen wenigen Jahren übten sechs Geistliche ihr Amt hier aus. Manche waren wohl nur wenige Monate, manche einige Jahre am Ort, was sie während ihres Wirkens hier erlebten und was sie zum Weggehen zwang, lässt sich oft nur ahnen.
Trotz des allgemeinen Elends erbarmte sich unsere Gemeinde vertriebener Evangelischer aus katholischen Herrschaften: Zweimal findet sich in unseren Pfarrmatrikeln der Hinweis, dass Glaubensflüchtlinge, die in Rüdenhausen Aufnahme gefunden hatten, hier beerdigt wurden: Johann Schmidt 1626 und Heinrich (Henricus) Frank 1628, beide stammten aus Wertheim.
Seit Beginn der 1620er Jahre wurden immer wieder Truppen in Rüdenhausen einquartiert: Die Bevölkerung musste ihnen Wohnung, Lebensmittel und Pferdefutter stellen und sogar den Sold bezahlen. Trotzdem hielt dies die Söldner oft nicht davon ab, zusätzlich zu plündern und zu stehlen. Im Jahr 1625 marschierte das Heer des kaiserlichen Generalissimus Wallenstein durch unsere Gegend. Ein Corporal nutzte die Gelegenheit, um sein Kind Anna Maria am 9. September in Rüdenhausen taufen zu lassen – offenbar war dies Corporal evangelisch, diente aber für die katholische Seite. Dies gibt uns einen Einblick, wie wir uns die Landsknechtsheere dieser Zeit vorzustellen haben: Die Soldaten, fast durchwegs aus aller Herren Länder angeworben, bildeten nach Herkunft geordnete Regimenter: Unter den Fahnen deutscher Fürsten, erst Recht unter dem Banner des deutschen Kaisers kämpften damals Engländer, Schotten, Dänen, Schweden, Finnen, Niederländer, Franzosen, Wollonen, Iren, Spanier, Italiener, russische Kosaken, Kroaten und noch viele andere – sie alle hatten keinen Grund, die Deutschen, ihre Dörfer, Städte, Schlösser und Kirche zu schonen – und richteten sie nach Kräften zugrunde. Der größte Unterschied zu einem modernen Heer aber war, dass die Söldner nicht allein auf den fremden Schlachtfelder unterwegs waren: Sie führten ihre Ehefrauen mit sich, noch öfter eine Geliebte oder gar eine bezahlte Hure; die Kinder, die sie im Felde zeugten, begleiteten das Heer. Frauen und Kinder taten sich beim Plündern besonders hervor – sie suchten die Leichen, der im Kampf Gefallenen, nach Münzen, Schmuck oder verwertbarer Kleidung ab; sie durchwühlten verlassene Höfe nach Wertsachen; sie brachen nach der Einnahme einer Stadt in die Häuser ein. Freytag schreibt: „Mit seiner Beischläferin wohnte der Soldat unter dem engen Strohdach des Lagers und im Quartier, das Weib buk, kochte und wusch für ihn, pflegte den Erkrankten, schenkte dem Zechenden ein, duldete seine Schläge und trug auf dem Marsch Kinder, Beutestücke oder Gerätschaften der flüchtigen Wirtschaft, die nicht auf den Bagagewagen geschafft werden konnten.“ Wer gern am Lagerfeuer singt, der kennt vielleicht das Landsknechtslied: „Vom Barette schwankt die Feder“. Darin heißt es: „Stich und Hieb / und ein Lieb / muss ein Landsknecht haben.“ Neben den Waffen gehörte das Liebchen zum Söldnerdasein – und natürlich auch ein kräftiger Trunk. Die Heerlager waren dementsprechend bevölkert von Händlern und Marketenderinnen, von Schankwirten, Huren, Wundärzten, Dienern usw., usf., der eine oder andere Feldprediger rundete das Bild ab. Auf dem Zug glichen diese Heere wohl eher dem wandernden Gottesvolk Israel in der Wüste als einer Armee, wie wir sie kennen. Das bunte Bild tat aber den düsteren Schrecken, den diese Heere verbreiteten, keinen Abbruch. Im Gegenteil!
Die Bevölkerung in Rüdenhausen, immer und immer wieder ausgeplündert, konnte bald ihren Pfarrer nicht mehr bezahlen. Wir wissen nicht, wie lange es Pfarrer Heilbrunner in Rüdenhausen aushielt und wann er sich entschloss, weiter zu ziehen, um mit seiner Familie nicht Hungers zu sterben. Graf Gottfried, der Rüdenhausen verlassen und in Kitzingen Zuflucht gefunden hatte, ermahnte seine Untertanen immer wieder brieflich, Pfarrer und Lehrer den geschuldeten Lohn zu zahlen. In einem Schreiben heißt es: „ Wer saumselig ist und das auf ihn treffende Teil nicht zahlt, soll solange ins Gefängnis gesetzt werden, bis das Geld gelegt ist.“ Aber selbst die härtesten Drohungen verloren ihre Wirkung, weil die bis aufs Blut ausgepresste Bevölkerung Pfarrer und Lehrer wohl schlicht nichts geben konnte. Man muss Freytags Urteil zustimmen: Die Dorfpfarrer waren in diesem Krieg sehr arm dran – sie konnten nur als Streiter Christi in dieser Not bestehen. Viele Pfarrer flüchteten sich übrigens vor der drückenden Not in das Dichten von Kirchenliedern – zu keiner Zeit entstanden so glaubensstarke, leidenschaftliche, trotzige und hoffnungsvolle Lieder wie im 30-jährigen Krieg: Unser Gesangbuch wäre arm ohne diese Dichtungen.
Ohne Johann Heermanns:
O Gott, du frommer Gott, / du Brunnquell guter Gaben,
ohn den nichts ist, was ist, / von dem wir alles haben:
gesunden Leib gib mir / und dass in solchem Leib
ein unverletzte Seel / und rein Gewissen bleib.
Ohne Josua Stegmanns:
Ach bleib mit deiner Gnade, / bei uns Herr Jesu Christ,
dass uns hinfort nicht schade, / des bösen Feindes List.
Ohne Paul Gerhardts:
Nun danket all und bringet Ehr, / ihr Menschen in der Welt,
dem, dessen Lob der Engel Heer, / im Himmel stets vermeldt.
1627 erschüttert ein Verbrechen Rüdenhausen – es fällt wohl in die kurze Amtszeit des Pfarrers Johannes Schwab und wird im Kirchenbuch aufgezeichnet: „Margarethe, Pancratii Dorsch Lohmüllers Tochter, so in das 17. Jahr gangen von den Reitern, so in die Mühl gebrochen [geschändet], daß sie acht Tag hernach gestorben 3. Juni 1627.“
Einige Zeit später wird die Kirche selbst Ziel eines Überfalls. Bei einem nächtlichen Angriff auf unser Dorf wurden – nach der Chronik von Pfarrer Kirsch – „die Bewohner aus den Ruhstätten hervorgeholt, geschlagen und geschunden, Schmuck und Kästen erbrochen, Altar und Kanzel verwüstet und die Mahlgeräte fortgeschleppt.“ Nun war also auch noch die Kirche geplündert und geschändet.
Aber die Landsknechte trieben es bald noch schlimmer: Sie überfielen den gräflichen Registrator Gräter auf dem Weg nach Kleinlangheim, schleppten ihn bis nach Geesdorf und erschossen ihn nach vielfältigen Martern.
Nachdem kurzzeitig Johannes Schwab als Pfarrer in Rüdenhausen tätig gewesen war, gab es zwischen 1633 und 1635 wieder einmal längere Zeit einen Seelsorger: Christian Hüler. Pfarrer Hüler harrte in Rüdenhausen aus, als selbst der gräfliche Amtmann schon geflohen war, er trotzte der Gewalt der Feinde und dem großen Mangel. Immer noch musste Graf Gottfried die Gemeinde dazu anhalten, den Pfarrer endlich zu bezahlen. Schließlich aber wurde es auch diesem treuen Hirten unmöglich, weiter in Rüdenhausen zu leben. Am 26. November 1634 richtete er brieflich an seinem Patron, den Grafen Gottfried in Kitzingen, die Bitte, er möge ihn an den Grafen Wolfgang Georg nach Castell empfehlen. Grund:„fast nit einen Heller an meiner Besoldung hab ich herauspressen können.“ Getreide und Wein, ein wichtiger Teil seines Lohnes, war ihm zwei Jahre lang nicht von der Gemeinde geliefert worden. Trotzdem findet sich ein neuer Theologe, der bereit ist, als Hungerpastor der Gemeinde ab 1636 mit Gottes Wort zu dienen: Diakonus Johann Herold.
In den Jahren nach 1627 wurden bis 1638 die Pfarrbücher nicht geführt – warum, ist unklar. Möglicherweise – aber das ist nur meine Überlegung – notieren die Pfarrer in dieser Zeit Taufen, Trauungen und Bestattungen in einem Notizbüchlein, das sie mit sich führen, weil sie über ihre eigentliche Gemeinde hinaus auch an anderen Orten die versprengten Gläubigen mit betreuten. Die großen Kirchenbücher waren jedenfalls nicht dazu geeignet, dass sie der Pfarrer auf dem Pferderücken mit sich führte – oder sie gar auf dem eigenen Rücken mit sich herumschleppte, während er zu Gottesdiensten und Amtshandlungen im Umland, in Wäldern und auf Feldern wanderte. Ein solches Notizbüchlein könnte leicht in den Kriegswirren verloren gegangen sein. Der berühmteste fränkische Dorfpfarrer dieser Zeit, Veit vom Berg in Baudenbach, bekannt als „Held im Kirchenrock“, der zwischenzeitlich der letzte Pfarrer im Aischgrund war und das ganze große Gebiet betreute, führte so eine Handkladde – sie rettete ihm auch das Leben, als Soldaten ihn vom Pferd schießen wollten: Die Kugel blieb in dem Notizbuch stecken, dass der Pfarrer über dem Herzen trug.
Am Ende der dreißiger Jahre war das Elend schließlich so groß, dass die Bürger Rüdenhausen verlassen: 1639 und 1640 verstreute sich die Bevölkerung, um irgendwie zu überleben.
Auch Pfarrer Herold zieht weg, er lebt nun in Kitzingen. Das erfahren wir aus seinem Sterbematrikel: „Johann Herold, Pfarrherr allhie, welcher sich auf die zwei Jahre lang in Kitzing aufgehalten, wird zu Mainbernheim zur Erde bestattet, 1641, 2. Jan.“
Aber die Lage bessert sich endlich doch: Ab 1641 ist das Schloss wieder bewohnt: Graf Georg Friedrich zieht in Rüdenhausen ein, langsam kehrt auch die Bevölkerung zurück, der Boden wird wieder bestellt. Pfarrer ist nun Johann Wolfgang Braunwald. Sein Nachfolger wird 1645 Wolfgang Gütlein, der nicht nur das Ende des 30-jährigen Krieges in Rüdenhausen erlebt, sondern länger hier amtiert, als jeder andere – selbst als mein geschätzter, lieber Amtsbruder Ernst-Ludwig Werner. 50 Jahre wird Pfarrer Gütlein als Hirte der Gemeinde Rüdenhausen vorstehen. Freilich führt er sich durchaus selbstbewusst in Rüdenhausen ein: Er nimmt die sog. gemeinen Güter für sich in Anspruch, also die Äcker und Wiesen, die der Dorfgemeinschaft gehören. Offenbar ist er nicht bereit, von der Hand in den Mund zu leben oder darauf zu warten, dass die Gemeinde ihm seinen Lohn bezahlt. Die Gemeinde beklagt sich deshalb beim Grafen – fügt aber abmildernd hinzu: „Jedoch so Herr Pfarrer solche Äcker zu behalten und zu bebauen begehrt, sollen ihm solche auf Abschlag seiner Besoldung vergönnt sein.“ Ein Kompromissangebot: Der Pfarrer kriegt die Äcker, aber dafür weniger Geld. Ob er sich darauf eingelassen hat, wissen wir nicht – es scheint mir jedoch wahrscheinlich. Denn er wusste ja, dass die Gemeinde bei seinen Vorgänger die Besoldung nicht oder nur zum Teil zahlen konnte. Nachdem Pfarrer Gütlein es anschließend ein halbes Jahrhundert hier ausgehalten hat, scheint es ihm – im Gegensatz zu seinen Vorgängern – recht gut gegangen zu sein.
Langsam zeichnet sich in dem völligen verheerten und zerstörten deutschen Land doch der Frieden ab: Die feindlichen Parteien beginnen ab 1641 mit Friedensverhandlungen. Am 14. Januar 1645 werden die Pfarrer – auch Pfarrer Gütlein in Rüdenhausen -angewiesen, jeden Montag und Freitag um 12.00 Uhr mittags für den Frieden zu beten. Dazu wird ihnen eine feste Ordnung an die Hand gegeben. „Die ganze Gemeinde, Schultheiß und Gerichtspersonen mit Weib, Kind und Gesinde haben die Betstunden fleißig zu besuchen“ – so die Anweisung. Die Gemeinden sollen durch brünstiges Gebet um Abwendung von weiteren Kriegsplagen flehen und Gott um die Wiederbringung des lieben güldenen Friedens bitten. Es dauert zwar noch bis 1648, bis der westfälische Friedensschluss den furchtbaren Krieg beendet, aber die Zustände bessern sich schon vorher langsam. Nachdem die Rüdenhäuser Kirchenäcker lange Zeit unbestellt geblieben sind, beschließt die Gemeinde 1647, die Finanzierung des Gotteshauses auf eine neue Basis zu stellen: Der Klingelbeutel eingeführt. In dem damaligen Beschluss heißt es: „… daß man alle hohen Festtage …, wie auch bei Hochzeiten und Sonntagen das Klingelsäcklein, wie in andern teils uns benachbarten Orten und Kirchen auch gebräuchlich, herumtragen, da dann ein jeder noch seinen guten Willen mit seiner milden Handreichung wird bezeugen müssen. Solches dann der liebe Gott, der uns Vergelter aller guten Taten ist, hier zeitlich und dort ewiglich belohnen wird.“
Schließlich war der entsetzliche Krieg vorbei. Wir können uns vorstellen, wie die Menschen sein Ende dankbar begrüßten. Ein großes Friedensfest mit Dankgottesdienst wurde in Rüdenhausen aber erst 1650 gefeiert – möglicherweise trauten die Menschen dem lieben Frieden noch nicht recht. Dann aber erklangen frohe Danklieder – vielleicht auch Paul Gerhardts neu gedichtetes Friedenslied:
Gott Lob, nun ist erschollen / das edle Fried- und Freudenwort,
daß nunmehr ruhen sollen / die Spieß und Schwerter und ihr Mord.
Wohlauf und nimm nun wieder / dein Saitenspiel hervor,
o Deutschland, und sing Lieder / im hohen, vollen Chor!
Erhebe dein Gemüte zu deinem Gott und sprich:
Herr, deine Gnad und Güte bleibt dennoch ewiglich.
Schwestern und Brüder,
die Gemeinde Rüdenhausen hatte die Zeit der Leiden, der Anfechtung, der Bedrückung und des Schmerzes hinter sich. Sie hatte auch in den Kriegswirren Prediger gehabt, die ihr – allen Widrigkeiten zum Trotz – mit Gottes Wort und Sakrament treu gedient haben: Zur Zeit und zur Unzeit haben sie das Wort Gottes gelehrt – wie es der Apostels Paulus fordert. Sie waren bereit und willig zu leiden – und sie hatten wahrlich Leid genug zu tragen: den Hunger, die Plünderung der Kirche, die seelsorgerliche Begleitung einer erschütterten Bevölkerung, den Anblick von Tod und Zerstörung. Sie haben dennoch nicht nachgelassen, das Werk eines Predigers des Evangeliums zu tun.
Möge ihr Vorbild uns anspornen, die wir heute in Frieden, Sicherheit und Wohlstand leben, Gott mit gleicher Liebe und Hingabe zu suchen wie sie es taten. Mögen wir ihm – wie sie – dienen, ihn ehren und gemeinsam – als Gemeinde und Pfarrer – seine Zeugen sein für eine Welt, die sich von ihm abwendet, weil sie glaubt, sie könne es allein schaffen. Sie kann es nicht allein schaffen – sie konnte es damals nicht, sie kann es heute nicht! Ihm – dem Vater, dem Sohn und den Heiligen Geist – sei Ruhm und Ehre jetzt und in Ewigkeit. Amen.