Die Nacht ist vorgedrungen, / der Tag ist nicht mehr fern.
So sei nun Lob gesungen / dem hellen Morgenstern.
Auch wer zur Nacht geweinet, / der stimme froh mit ein.
Der Morgenstern bescheinet / auch deine Angst und Pein.
Er ist der bekannteste unter den deutschsprachigen evangelischen Dichtern im 20. Jahrhundert: Jochen Klepper. Einige seiner Lieder haben Eingang gefunden in die Gesangbücher, mehr noch: Sie gehören inzwischen zum festen Repertoire von Kirchenchören und zum unverzichtbaren Bestandteil der Gottesdienste, besonders in der Advents- und Weihnachtszeit.
Die wichtigen Daten zu Kleppers Leben sind rasch erzählt: 1903 kam Joachim Georg Wilhelm Klepper als Pfarrerssohn in Beuthen an der Oder zur Welt. Das zu Krankheiten neigenden Kind wuchs in einer gebildeten, wohlhabenden und gläubigen Atmosphäre auf, die aber durch die häufigen und heftigen Streitigkeiten der Eltern belastet war. Mit dem Eintritt in die achte Klasse des Gymnasiums in der Kreisstadt zog er in das Haus seines Französischlehrers, der ihn nationalistisch und antisemitisch beeinflusste und (vermutlich) sexuell missbrauchte. Es dauerte Jahre, bis er sich von diesem Einfluss freimachen konnte.
Nach dem Abitur studierte Klepper in Erlangen und Breslau Theologie – gab aber das Studium nach zwei schweren körperlichen und seelischen Zusammenbrüchen auf. Ab 1927 arbeitete für den Evangelischen Presseverband für Schlesien als Redakteur für das Radioprogramm und war daneben freier Schriftsteller.
1929 lernte Klepper die verwitwete Jüdin Johanna Stein kennen – Erbin einer Modefirma, Mutter von zwei Töchter: Brigitte und Renate, kultiviert, klug und dreizehn Jahre älter als er.
Die beiden wurden – gegen den heftigen Widerstand von Kleppers Eltern und Geschwistern – ein Liebespaar, 1931 heirateten sie standesamtlich. Klepper wurde für Brigitte und Renate ein liebevoller Vater. Durch die Wirtschaftskrise geriet die junge Familie bald in große finanzielle Schwierigkeiten. Kleppers Hoffnung auf einen Durchbruch als Schriftsteller wurde enttäuscht: Für seinen ersten Roman, der in der Modebranche spielte, fand er keinen Verleger. In Berlin arbeitete Klepper ab 1932 wieder beim Rundfunk – sein vorher abgeschlossener zweiter Roman: „Der Kahn der fröhlichen Leute“ machte ihn zugleich zu einem beachteten Autor. Mit der Machtübernahme der Nationalsozialisten wurde die Lage der Familie bedrückend – aber Klepper schaffte es, trotz seiner jüdischen Familie als Autor im Geschäft zu bleiben.
Durch seinen nächsten Roman „Der Vater“ – der zu den bedeutendsten historischen Romanen der deutschen Literaturgeschichte gehört – wurde Klepper 1937 zum Lieblingsschriftseller der Wehrmachtselite. Klepper schildert darin den Lebensweg von König Friedrich Wilhelm I., dem Vater Friedrichs des Großen, der das Fundament für die Großmacht Preußen legte: als Schöpfer eines schlagkräftigen Heeres, eines weltweit bewunderten Beamtenapparates und einer vorbildlich effektiven Verwaltung. „Der Vater“ ist im Roman aber nicht nur ein vorbildlicher Monarch, er ist vor allem ein „großer Schmerzensmann“: Gedrückt von einem übermenschlichen Pflichtbewusstsein, unverstanden von seiner Familie, aufgerieben von körperlichen Qualen, in ständigem Bewusstsein seiner unvertretbaren Verantwortung vor Gott. Es muss überraschen, dass dieses Buch, dass nicht nur zutiefst christlichen Geist atmet, sondern den „Vater“ auch als offenbaren Gegenentwurf zur Hitler präsentiert, das große Wohlwollen der nationalsozialistischen Machthaber errang – aber es war so. Durch die Popularität, die dieses Buch Klepper eintrug, konnte er seine jüdische Familie zunächst schützen.
1938 veröffentlichte Klepper sein Buch mit christlichen Dichtungen: „Kyrie“. Heute sind gerade diese Lieddichtungen mit seinem Namen verbunden.
Klepper hatte die Freude, dass seine Frau Hanni sich für den christlichen Glauben öffnete – kurz vor Weihnachten 1938 wurde sie auf eigenen Wunsch getauft. Direkt im Anschluss an die Taufe wurden Hanni und Jochen Klepper kirchlich getraut.
Die Taufe von Hanni und die anschließende kirchliche Trauung von Ehepaar Klepper vollzog der von beiden geschätzte Max Kurzreiter, Pfarrer an der Martin-Luther-Gedächtniskirche in Berlin-Mariendorf. Die Luther-Kirche wurde 1933-35 erbaut und ist ein Symbol der Verschmelzung von Protestantismus und Nationalsozialismus, wie ihn sich die regimehörige Kirchenpartei der „Deutschen Christen“ erträumte. So empfing die Jüdin Hanni Klepper die Taufe ausgerechnet an einem Taufbecken, das in seinem Sockel einen betenden SA-Mann zeigt.
Der nationalsozialistische Druck auf die Familie nahm trotz Kleppers Prominenz immer mehr zu. Im Sommer 1939 gelang es, Tochter Brigitte die Ausreise nach England zu ermöglichen, aber die Bemühungen um eine Immigration auch für Renate scheiterten. Renate erfuhr aber in dieser Zeit so viel Zuwendung und Trost von Christen, dass auch sie sich zur Taufe entschloss. Klepper wurde 1940 zur Wehrmacht eingezogen, aber bald wieder wegen seiner „nicht-arischen“ Familie als „wehrunwürdig“ entlassen. Als deutlich wurde, dass Klepper seine Frau und Stieftochter nicht mehr vor einer Deportation würde bewahren können, nahm sich die Familie 11. Dezember 1942 gemeinsam das Leben. Sie vertrauten auf Gott, dessen Barmherzigkeit größer ist als alle menschliche Schuld.
Gott will im Dunkel wohnen / und hat es doch erhellt!
Als wollte er belohnen, / so richtet er die Welt!
Der sich den Erdkreis baute, / der läßt den Sünder nicht.
Wer hier dem Sohn vertraute, / kommt dort aus dem Gericht!
Diese Worte stammen aus Kleppers bekanntestem Weihnachtslied: Die Nacht ist vorgedrungen. Jochen Klepper liebte Weihnachten – er widmete allein sechs Lieder diesem Fest, den anderen großen Tagen des Kirchenjahres dagegen nur eines. Klepper feierte Weihnachten im Kreis der Familie als Höhepunkt des Jahres:
„Nach der Christvesper bliesen die Posaunenbläser Turmchoräle, und der große Adventsstern im Kirchtor wehte hin und her im eisigen Wind. Wir gingen durch die verschneiten Straßen heim; in vielen Fenstern strahlten schon die Weihnachtsbäume, und nun steckte ich die Lichter an unserem zarten, feierlichen, bunten Baume an und klingelte mit der alten Apostelglocke. Die Freude über die Gabentische schien mir größer denn je. … Den ganzen Abend bis Mitternacht saßen wir beim Kerzenglanz des Silberleuchters, der Lichtersterne auf dem Tish, den Kerzen zu Füßen der Madonna; und auf der Höhe des Heiligen Abends strahlten noch einmal die Lichter des zarten, bunten Weihnachtsbaumes mit seinem goldenen Engel und seinen kleinen silbernen Glocken, den roten und goldenen, grünen und silbernen Glaskugeln, der Nürnberger Madonna und dem „Herzen Jesu“; wunderbar war die Stille des Abends, wunderbar der Duft von Wachskerzen und Tanne.“ (Tagebucheintrag vom 24.12.1938)
Aber es hat sicher nicht nur mit der Liebe des Dichters zum Weihnachtsfest zu tun, dass gerade Kleppers Weihnachtslieder bis heute die Herzen anrühren. Das deutsche Weihnachtsfest verbindet in einzigartiger Weise Fröhlichkeit mit Sentimentalität; es beschwört gleichzeitig die wärmende Geborgenheit der Kindheit herauf und zeugt von der Verlorenheit des Erwachsenen in einer kalten Welt; zum deutschen Weihnachtsfest gehört die Friedenssehnsucht und die starke Betonung, in einer friedelosen Welt zu leben (auch noch nach mehr als 7 Jahrzehnten des Friedens in Deutschland) und natürlich eine eigenartige Mischung von Konsumlust und -überdruss, von hemmungslosem Genießen und moralisierender Genussschelte.
Kleppers Weihnachtslieder sind in dieser Hinsicht die deutschesten Weihnachtslieder, die jemals gedichtet wurden – sie tragen diesem Gefühlsmix Rechnung und sie tun das authentisch. Wenn Klepper in seinem „Weihnachtslied im Kriege“ schreibt:
Nun ruht doch alle Welt. / O Herz, wie willst du’s fassen?
Die Erde liegt im Streit, / von allem Heil verlassen,
ist friedlos weit und breit / und wider dich gestellt,
dann ist dies keine Hommage an die Fernsehnachrichten von fernen Kriegsschauplätzen. Klepper hat das Lied tatsächlich im Krieg gedichtet, sechs Wochen nach dem Beginn des 2. Weltkriegs, dem deutschen Überfall auf Polen und der Kriegserklärung von Frankreich und Großbritannien an das deutsche Reich.
So allgemein die Verse auch gehalten sind: Klepper zeigt eine erstaunliche Immunität gegen die propagandistische Verklärung des Krieges. Dies ist umso bemerkenswerter, als das Gedicht am 15. Oktober 1939 geschrieben wurde – also gerade neun Tage nach der bedingungslosen Kapitulation Polens, die Deutschland in einen Siegesrausch versetzt hatte. Auch wenn später im Lied vom „Jauchzen der Welt“ die Rede ist, bezieht sich das nicht auf das Vorwärtsstürmen der deutschen Armeen, sondern auf das Kommen Gottes in diese Welt.
Die Welt jauchzt fröhlich auf. / O Herz, wie kann’s dich wecken?
Dich hat die Not versteint. / Der Erdkreis hat viel Schrecken
zu deiner Qual vereint / und türmt sie dir zu Hauf.
Wie kann der Einzelne, den doch die Freude des Weltkreises über die Geburt des Herrn mitreißen sollte, weiter in seinem Schmerz, in seiner Trauer gefangen sein? Das – angesichts des menschlichen Elends – versteinerte Herz kann die Botschaft nicht aufnehmen: „Heute ist euch der Heiland geboren, Christus, der Herr.“ Dieses Leiden an der Welt ist nun nicht moralinsauer aufgeladen, es ist Ausdruck einer existentiellen Verzweiflung: Klepper hatte zeitlebens mit Depressionen zu kämpfen, schon früh spielten Todeswünsche bei ihm eine Rolle, die sich angesichts des Verfolgungsdrucks auf seine Familie mehr und mehr steigerten.
Hilfe in dieser seelischen Not, das war Kleppers Erfahrung, konnte ihm nur Gottes Wort spenden, durch das Gott das Herz aus Stein in ein Herz aus Fleisch verwandelt (vgl. Hes. 11,19; 36,26):
Doch der das Leben gab, / den Mund mit Odem füllte,
spricht selbst dir Tröstung zu. / Kein Schmerz, den er nicht stillte!
Kein Werk, das er nicht tu! / Dein Heiland kommt herab!
Es macht die Größe Kleppers als evangelischer Dichter aus, dass seine Weihnachtslieder nicht in deutscher Weihnachtsgefühligkeit stecken bleiben, sondern den christlichen Kern der Sache bezeugen: Gott wird Mensch – dem Einzelnen und der Welt zum Heil!
Über das Weihnachtsfest im Jahr 1941 schreibt der Dichter in sein Tagebuch:
„Ich wüßte nicht, was diesem Tag des Heiligen Abends gefehlt hätte an all dem häuslichen Zauber, den er je und je besaß, vom Aufbauen der Gabentische an bis zum Anstecken der Lichter am Baum, von der kleinen Bescherung für die gute Bülow an bis zum Austragen der kleinen Geschenke in die Nachbarschaft, vom mittäglichen Tee im Lampenschein beim Heimkommen des Kindes bis zum Anzünden kleiner Tannenzweige, damit das ganze Haus erfüllt wäre vom weihnachtlichen Duft. Wie alljährlich waren alle Vorbereitungen so abgeschlossen, daß wir vor der Christnacht noch eine Weile völliger Ruhe und Muße hatten. Wir gingen alle vier zur Kirche, zur zweiten Christmette, um sechs, weil wir es ja lieben, daß die große Feier wirklich auf den Abend des Heiligen Abends fällt. Als die Glocken läuteten, saßen wir schon in der Kirche, jedoch nicht auf dem gewohnten Platz, sondern dahinter, weil Renerle mit ihrem gelben Stern hinter einer Säule verborgen sein wollte. … Und die Christnachtpredigt enthielt einen Abschnitt „über den Gott, der Rat und Hilfe weiß, wo wir keinen Ausweg mehr sehen“, der zu uns hin gesprochen war; auch sonst gedachte die Predigt diesmal aller, die mit schwerem Herzen der Weihnacht entgegensehen. All das Qualvolle dieser Weihnacht mußte durchlitten sein, als ich, Hanni und Renerle noch einmal neben mir, in der Christnacht saß. Dann gelang es, so schön wie jedes Jahr, für unser Kind den Heiligen Abend zu feiern.“
Das Qualvolle dieser Weihnacht ist für Klepper keine sentimentale Phrase, kein wehmütiges Gefühl, keine in Erinnerung an die Kindheit zerdrückte Träne – es ist das Wissen, dass die Lage für die „nicht-arischen“ Deutschen immer aussichts- und auswegloser wird. Der Tagebucheintrag erschüttert bis ins Mark – kaum hat Klepper über die vertraute Feier des Heiligen Abends „wie jedes Jahr“ geschrieben, fährt er fort:
„Hanni aber kamen vor dem Feste Zweifel an unserem Entschluß zum Tode. Ich aber vermag zu Gott nur zu beten, uns sterben zu lassen, ehe die große, mir unausweichlich scheinende Stunde der äußersten Versuchung kommt …“
Schon vor Weihnachten hat das Paar den Beschluss gefasst, sich nicht zerreißen zu lassen durch eine Zwangsscheidung. Bevor es zu einem Abtransport von Hanni ins Todeslager kommen könnte, wollten sie gemeinsam aus dem Leben scheiden. Ihr Suizid, so verstehen sie es, wäre nicht ein Aufstand gegen den Schöpfer, gar die unvergebbare Sünde wider den Heiligen Geist (diese Fragen werden im Tagebuch diskutiert), sondern sie würden dem barmherzigen Christus ihr Leben in die Hände legen, im Vertrauen darauf, dass er auch ihr Heil wirkt:
Sieh nicht, wie arm du Sünder bist, / der du dich selbst beraubtest.
Sieh auf den Helfer Jesus Christ! / und wenn du ihm nur glaubtest,
daß nichts als sein Erbarmen frommt / und daß er dich zu retten kommt,
darfst du der Schuld vergessen, / sei sie auch unermessen.
Kleppers Weihnachtslieder waren und sind Klassiker. Sie mussten das nicht erst werden, sie waren es seit ihrer Abfassung. Wie den größten unserer Dichtertheologen gelingt es Klepper, das Geheimnis der Selbsterniedrigung Gottes um der Erhöhung des Menschen willen eingängig auszusprechen. Das Holz der Krippe wandelt sich in seinen Versen zum Kreuzesstamm – vor unseren Augen, zu unserer Erlösung:
Und über Stall und Stern und Hirten / wuchs Golgatha, dein Berg, empor.
Nah vor den Augen der Verirrten / trat aus der Nacht dein Kreuz hervor.
Dort neigtest du für uns dein Haupt. / Da haben wir geglaubt.
Der Gläubige empfängt von Gott her eine neue – seine eigentliche – Identität: als Kind Gottes. Nicht das eigene Fragen, Ringen, zweifelnd-verzweifelnde Sich-Behaupten macht den Christen aus, sondern der Zuspruch Gottes. Er setzt der qualvollen Suche des Einzelnen nach sich selbst und nach dem eigenen Weg ein Ende. Auch wenn die letzte Verwandlung noch aussteht, der Gläubige erwartet sie vertrauensvoll von Gott in Christus:
Wer ward ich, Herr, in dieser Nacht? / Herz, halte still und poche sacht!
In Gottes Sohn ward ich Sein Kind. / Gott ward als Vater mir gesinnt.
Noch weiß ich nicht: Was werd‘ ich sein? / Ich spüre nur den hellen Schein!
Den hast du mir in dieser heil’gen Nacht / an deiner Krippe, Herr, entfacht!
So geht der Blick in Kleppers Weihnachtsliedern immer nach vorne. Mit Krippe und Kreuz kommt der Heilsweg, den Gott uns führt, noch nicht an sein Ende. Der Weg führt in die Fülle des Reiches Gottes, in das ewige Leben, in die herrliche Freiheit der Kinder Gottes, in die Anbetung vor seinem Thron, die nie ein Ende hat. Es würde unseren Weihnachtsgottesdiensten und der Klarheit unserer Verkündigung unendlich gut tun, wenn wir uns von Kleppers Blick leiten ließen:
Du Kind, zu dieser heiligen Zeit / gedenken wir auch an dein Leid,
das wir zu dieser späten Nacht / durch unsere Schuld auf dich gebracht.
Kyrie eleison!
Die Welt ist heut voll Freudenhall. / Du aber liegst im armen Stall.
Dein Urteilsspruch ist längst gefällt, / das Kreuz ist dir schon aufgestellt.
Kyrie eleison!
Die Welt liegt heut im Freudenlicht. / Dein aber harret das Gericht.
Dein Elend wendet keiner ab. / Vor deiner Krippe gähnt das Grab.
Kyrie eleison!
Die Welt ist heut an Liedern reich. / Dich aber bettet keiner weich
und singt dich ein zu lindem Schlaf. / Wir häuften auf dich unsere Straf´!
Kyrie eleison!
Wenn wir mit dir einst auferstehn / und dich von Angesichte sehn,
dann erst ist ohne Bitterkeit / das Herz uns zum Gesange weit!
Hosianna!