„Da zieht das Heer der obdach- und heimatlos Gewordenen an uns vorüber! Da strömen sie herein die Flüchtlinge, die alles, aber auch alles verloren haben! Da schleppt sich der Zug der müden Alten an uns vorüber, denen die Fürsorge der Kinder fehlt! Da jammern die Säuglinge, denen es am Nötigsten mangelt! … Da wartet eine halt- und wurzellos gewordene Jugend, die hoffnungslos untergeht, wenn sie vergeblich warten muss! Öffne die Ohren, und Du hörst den Hilfeschrei der Notleidenden!“

Gemeinde des Herrn Jesus Christus, Schwestern und Brüder,

diese Worte stammen aus einem Aufruf, den Karl Nicol, der Vorsitzende des Landesvereins für Innere Mission, im Jahr 1945 verfasst hat – im Pfarramt ist er unter den Akten meiner Vorgänger aufbewahrt worden. Gemeint sind mit dem Heer der obdach- und heimatlos Gewordenen die Millionen deutscher Vertriebener aus dem Osten.
Herr Heinz Ehemann, der in diesem Jahr sein 80. Konfirmationsjubiläum beging, berichtete, wie am Konfirmationssonntag 1945 Vertriebene nach Rüdenhausen kamen: „Es war ein ganz besonderer Tag … ein festlicher Gottesdienst, mein erstes Abendmahl. Am Nachmittag plötzliche Unruhe in den Dorfstraßen, ein Tross von Flüchtlingen auf der Flucht vor den Russen. Mein Vater als Bürgermeister musste für ausreichend Quartiere sorgen.“
In der Geschichte unserer kleinen Orte spiegelt sich die große Geschichte dieser Zeit.

Schwestern und Brüder,

am 08. Mai 1945 endete der 2. Weltkrieg im Westen mit der deutschen Kapitulation. Das Kriegsende und die unmittelbare Nachkriegszeit haben in unseren Pfarramtsunterlagen vielfältige Spuren hinterlassen.

Rüdenhausen, hatte „den Krieg … ohne materiellen Schaden überstanden“ – so hielt Dekan Mebs in seinem Tätigkeitsbericht fest. Dekan Mebs vertrat die Pfarrstelle seit der Einberufung von Pfarrer Wilhelm Schmerl im Sommer 1940 und diente der Rüdenhäuser Gemeinde als Seelsorger. Die evangelischen Wiesentheider wurden dagegen von Pfarrer Luther aus Abtswind betreut – ohne dass die Zusammengehörigkeit beider Gemeinden aufgelöst worden wäre.                  

Am 30. März 1945, dem Karfreitag, wurde Dekan Mebs erstmals durch den Vater von Pfarrer Schmerl, Kirchenrat Schmerl aus Würzburg, in Rüdenhausen entlastet. Kirchenrat Schmerl war in Würzburg ausgebombt worden und zog in das Pfarrhaus seines Sohnes in Rüdenhausen. Am 15. September 1945 übernahm schließlich Vikar Hermann Schmerl den Dienst. Er vertrat seinen Bruder, Pfarrer Wilhelm Schmerl, der in russische Gefangenschaft gefallen war, von dem aber damals noch jedes  Lebenszeichen fehlte. Trotz der Dienste, die Kirchenrat Schmerl und Vikar Schmerl in Rüdenhausen leisteten, führte Dekan Mebs die Rüdenhäuser Pfarrchronik bis zur Entlassung von Pfarrer Schmerl aus der Gefangenschaft weiter.

Gewiss hatten die Menschen in Rüdenhausen Grund zum Danken, dass es im Dorf keinen „materiellen Schaden“ gegeben hatte – in den letzten Kriegswochen gab es auf einige Dörfer in der Umgebung Luftangriffe, die Zerstörung und Tod brachten. Trotzdem war der Schaden gewaltig, den der Krieg durch den Soldatentod junger Rüdenhäuser verursacht hatte, durch schwere körperliche oder seelische Verwundungen von Kriegsteilnehmern.
28 Mal ist in unserem Begräbnisbuch in den Jahren 1940 bis 1945 neben den Eintrag des Pfarrers das Eiserne Kreuz gemalt worden. 1940, als unsere Pfarrei die ersten Gefallenen zu beklagen hatte, betrafen die Eintragungen nur Soldaten, die Gemeindeglieder waren. Aber gegen Kriegsende fanden auch Soldaten bei uns ihre letzte Ruhe, deren Heimat in anderen Teilen Deutschlands war. Sogar ein amerikanischer Feldwebel wurde am 13. April 1945 in Wiesentheid beerdigt – nach Kriegsende wurde sein Leichnam von den amerikanischen Militärbehörden geborgen und an anderer  Stelle wieder beigesetzt. (Amerikanische Soldaten dürfen nach US-Tradition nicht im Feindesland begraben sein.)
In der Pfarrei gab es wohl kaum eine Familie, die nicht Gefallene zu beklagen hatte oder von der nicht Angehörige vermisst wurden oder sich in Kriegsgefangenschaft befanden.

Viele waren neu in unseren Dörfern. Familien hatten ihre Heimat im Osten Deutschlands verlassen müssen, waren als Evakuierte, als Vertriebene oder Flüchtlinge nach Franken gekommen. Sie hatten alles verloren, hatten oft Schreckliches erlebt, waren zum Teil auf der Flucht getrennt worden.

Ausgebombte aus Städten, Kinder, die auf dem Land vor den Luftangriffen in Sicherheit gebracht worden waren, Kriegswaisen gab es im Ort.

Aus dem Elend entstand ein gewaltiger Wille zu helfen: Nicht nur vor der eigenen Haustür, sondern überall, wo Not herrschte. Als zu Weihnachten 1945 in Rüdenhausen Spielzeug gesammelt wurde, um Kindern in zerstörten Städten eine kleine Freude zu machen, listete das Pfarramt anschließend 59 Einzelspenden auf, u.a.: 3 Stoffwauwaus, 1 Ziehpferdchen und sogar 1 Pupuppe.

In Wiesentheid wurde 1945 ein Weihnachtstisch für die Bedürftigen eingerichtet. Der Pfarrer bekam zu diesem Zweck z.B.: 3 Paar Holzschuhe, 1 Zahnbürste, 1 Bleistift und 2 Tüten Erbsen.
Dankbar berichtet Dekan Mebs: „Bei den Geldhaussammlungen steht … [die Gemeinde] bisher in ihrer Gebefreudigkeit mit an der Spitze. Auch die Naturaliensammlungen, die alljährlich durchgeführt wurden, brachten guten Erfolg.“

Sehr eindrucksvoll ist für mich ist, wie ernst die Rüdenhäuser in dieser schweren Zeit die Unterstützung der Mission in Papua-Neuguinea nahmen. Aus den Jahren 1944, 1945, 1946 und 1948 haben sich Abrechnungen bzw. Dankeskarten der Neuendettelsauer Mission erhalten. Das Bewusstsein, das alle Hilfe letztlich „von oben“ kommt, muss sehr ausgeprägt gewesen sein. Wie können wir uns sonst vorstellen, dass Menschen, die selber sehr wenig hatten, spendeten, damit Menschen auf der 14.000 Kilometer entfernten Insel, das rettende Evangelium zu hören bekamen?

Das große Leid der Nachkriegszeit brachte auch Bewegung in die Ökumene. Am 23. Dezember 1945 hielt Vikar Schmerl einen Trauergottesdienst für einen katholischen Soldaten ab, der bereits im August 1944 gefallen war – offenbar wurde der Tod über ein Jahr später erst bestätigt. Vikar Schmerl machte zu dem Trauergottesdienst einen Randvermerk im Kirchenbuch: „Nachdem der kathol. Geistliche der Heimatgemeinde des Gefallenen … die Abhaltung eines Gottesdienstes verweigert hatte, wurde hier der Gottesdienst gehalten.“ Grund für das verweigerte katholische Requiem: Der Soldat „war evangelisch getraut“.

Während die Fronten zwischen den Konfessionen hier noch verhärtet erscheinen, klappte das Miteinander an anderer Stelle sehr gut. Dekan Mebs hält in der Pfarrchronik fest: Es „verdient noch die Tatsache Erwähnung, daß der Kirchenvorstand auf die Bitte des kath. Pfarramtes Wiesentheid hin der hiesigen kathol. Gemeinde, die durch den Zuzug der Evakuierten und Ausgebombten entstanden war, die Kirche [St. Peter und Paul] zur Mitbenützung überließ. Da aber zur selben Zeit in Wiesentheid das Militär den evangelischen Betsaal beschlagnahmt hatte, hat die dortige kath. Gemeinde ihrerseits die [Mauritius-]Kirche der evang. Gemeinde zur Mitbenützung überlassen.“

Die lutherische Bevölkerung in Wiesentheid wuchs stark an, die „Volksschulstunden des Religionsunterrichts mußten vervierfacht werden.“ Und eine neue Perspektive ergab sich für den Ort. Dekan Mebs: „Ganz offensichtlich enzwickelt sich Wiesentheid zu einer Stadt. Wieweit diese Entwicklung gesundem Wachstum entspringt, das wird die Zeit lehren.“ 

1946 wurde der Kirchenvorstand neu gewählt – der alte Kirchenvorstand war seit 1934 ununterbrochen im Amt gewesen. Der alte Kirchenvorstand sorgte zuvor allerdings noch für die Innenraumsanierung  der Rüdenhäuser Kirche, weil „größere Teile der Decke abgefallen“ waren. In der Zwischenzeit fanden die Gottesdienste im Kramerschen Saal statt.

Aus diesem Jahr haben sich in den Pfarramtsunterlagen eine große Zahl Aufrufe an die Jugend erhalten, die neu gegründete CSU zu unterstützen. Das Flugblatt richtet sich ganz speziell an junge Menschen, die nie an Wahlen teilgenommen hatten, weil sie in der Weimarer Zeit noch Kinder gewesen waren. Sie werden zunächst über die Bedeutung freier Wahlen aufgeklärt: „Deine Stimme junger Mann, deine Stimme Mädchen – jede Stimme gilt nicht weniger als die eines Ministers. Nütze die Möglichkeit, die Geschicke deines Volkes zu beeinflussen. – Wähle!“

Das Flugblatt von 1946 wendet sich übrigens auch entschieden gegen den untergegangenen, aber in den Köpfen noch präsenten, Nationalsozialismus: „Was hat uns in den Abgrund geschmettert? Der Krieg. – Wodurch wurde der Krieg möglich? Durch eine falsche Weltanschauung. – Was war falsch an der Weltanschauung des „Dritten Reiches“? Vor allem dies: Daß sie gegen das Christentum gerichtet war. Ein Volk ohne Gott ist ein Volk ohne Zukunft. Deutschland hat sein Größtes nur geleistet in Verbindung mit dem Christentum: Denn das Christentum setzt Wahrheit gegen Lüge, Sitte gegen Unzucht, Brudersinn gegen Gemeinheit. Darum wählt christlich!“

Diese Bewertung mag denen, die Jahrzehnte nach dem Krieg geboren wurden, fremd erscheinen. Wenn man heute junge Menschen auf der Straße fragen würde: „Was war falsch an der Weltanschauung des „Dritten Reiches““, dann würden sie sicherlich zuerst den mörderischen Antisemitismus, dann den Rassismus allgemein, den Hass auf alle Andersdenkenden, den Willen zum Eroberungs- und Ausrottungskrieg nennen. Aber die Sicht aus dem alten Flugblatt ist doch nicht von der Hand zu weisen. Wo Gott nicht mehr vorkommt, wo der Mensch nicht zuerst und zuletzt als Gottes geliebtes Geschöpf, als sein Ebenbild von einzigartiger Würde verstanden wird, da ist die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen, die Vernichtung des Menschen durch den Menschen, die Unterscheidung von lebenswert und lebensunwert, von Herrenmensch und Untermensch nicht fern! Nur Gott kann die Würde des Menschen garantieren, nur er dem Menschen seine Grenze aufzeigen. „Ein Volk ohne Gott ist ein Volk ohne Zukunft! “ Das gilt auch heute noch.

In der Not lagen edelste Opferbereitschaft und brutalster Egoismus mitunter nahe beieinander. Einerseits gaben Menschen, soviel sie vermochten – anderseits mussten die Bauern Flurwachen aufstellen, weil es in großem Umfang zu Felddiebstählen kam. Der Schwarzhandel fand, wie Dekan Mebs schreibt, „da und dort offene Türen“.  Erschüttert wurden die Menschen der Pfarrei durch einen grausigen Mord, der nie aufgeklärt werden konnte. In der Nacht des 31. Mai 1946 wurde der Müller Heinrich Düll erschossen. „Da bei der Tat nichts entwendet worden ist, ist sie besonders rätselhaft“ – so der Dekan.

Heute, Schwestern und Brüder, hört man angesichts leerer Gottesdienste oft: „Den Menschen geht es zu gut. Wenn es ihnen schlechter ginge, würden sie zur Kirche kommen.“ Dekan Mebs hat diese Erfahrung in unserer Pfarrei nicht gemacht. Er betont einerseits, dass im Dritten Reich nur wenige der Kirche völlig den Rücken gekehrt hatten – andererseits schreibt er auch sehr ernüchtert: „Es sind wenige“ die im Leiden neu zu Gott gefunden haben. Und er betet: „Gebe Gott, daß die Gemeinde nicht umsonst und ohne Segen durch diese Zeit der Trübsale gegangen ist und noch geht!“

Eine besondere Qual dieser Jahre war die Ungewissheit über die Vermissten. War der Vater, war der Bruder, war der Ehemann vielleicht schon seit Jahren tot? War er in Gefangenschaft geraten? Würde er schon bald abgerissen und erschöpft vor der Tür stehen? Die Gemeinde bangte um ihren Pfarrer Wilhelm Schmerl, von dem seit 1944 jedes Lebenszeichen fehlte. Im Pfarramt wird ein Privatbrief von Kirchenrat Schmerl bei den Akten aufbewahrt, den er an seine Kinder, u.a. Vikar Hermann Schmerl in Rüdenhausen schrieb – Kirchenrat Schmerl war inzwischen nach Würzburg heimgekehrt. In diesem Brief finden wir eines der frühen Zeugnisse, dass die Familie endlich Nachrichten über den bis dahin verschollenen Sohn bekommen hatte – im Oktober 1946. Sie wussten nun – er ist in sowjetischer Gefangenschaft. Kirchenrat Schmerl berichtet: „Ueber Wilhelm haben wir durch seinen früheren Chef, Pfarrer Hoffmann eine Suchdienstnachricht erhalten, die allerdings schon überholt sein dürfte, aber sehr freundlich war. Nun kam nochmal aus Bremen Kunde durch einen Mann, der ihn im Juni noch gesund gesehen hat.“ Machen wir uns bewusst, was das bedeutet!

Heute halten wir Verbindung über Handy, E-Mail, WhatsApp, Skype, SMS etc. in Echtzeit – und wenn eine Nachricht wenige Stunden alt ist, ist sie schon veraltet. Im Nachkriegschaos musste es reichen zu wissen – vor sechs Monaten ging es unserem Jungen noch gut. Und jedem war dabei klar: Sechs Monate in sowjetischer Kriegsgefangenschaft konnten den stärksten und gesündesten Mann zerstören! Pfarrer Schmerl überlebte – Gott sei Dank! Am 25. August 1948 durfte er endlich heimkehren – er hatte sich durch ein Telegramm angekündigt. Dekan Mebs schrieb in der Chronik: „Beide Gemeinden sowohl Rüdenhausen wie auch Wiesentheid bereiteten ihm einen überaus herzlichen Empfang.“

Gemeinde des Herrn Jesus Christus, Schwestern und Brüder,

was trug damals, was trägt heute mit Blick auf tiefe Schuld, Verzweiflung über Verlust an Leben, Gesundheit, Heimat, Hab und Gut, was trägt im Schmerz um geliebte Menschen und was schenkt Hoffnung im Angesicht des Todes? Nur das EINE – der Glaube an die Auferstehung des Herrn, der den Sieg des Lebens über den Tod erringt:

„Gelobt sei Gott, der Vater unseres Herrn Jesus Christus, der uns nach seiner großen Barmherzigkeit wiedergeboren hat zu einer lebendigen Hoffnung durch die Auferstehung Jesu Christi von den Toten, zu einem unvergänglichen und unbefleckten und unverwelklichen Erbe, das aufbewahrt wird im Himmel für euch“ – wie der Apostel Petrus schreibt.

Arno Pötzsch, im 1. Weltkrieg Marinesoldat, im 2. Weltkrieg Marineoberpfarrer, der unfassbar viel Tod gesehen hatte und angesichts dessen seine „Notlieder der Kirche“ schrieb, dichtete aus seiner Osterhoffnung heraus diese wunderbaren Zeilen:

Glaub, wer da will, den Tod,

ich will das Leben glauben!

Was Gott erschuf, lässt Gott

sich nicht entfalln, nicht rauben,

lässt nicht ins Nichts zerstauben,

dem er gebot zu sein.

Mag’s tausendmal vergehn,

es muss, was eh erschienen,

ihm wieder auferstehn,

ihm neu erblühn und grünen

und seinem Willen dienen;

sein Wille muss geschehn.

Drum glaub, wer will, den Tod,

ich glaub ein ewges Leben!

Als Gott dem Licht gebot,

da hat er’s schon gegeben.

Wir leben, sind und weben

in ihm, dem ewgen Gott. Amen.

Predigt zum 80. Jahrestag Ende des 2. Weltkriegs

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