„Komm raus, Barabbas, du bist frei!“ schnaubt verächtlich der Wächter in den dunklen, stickigen, von Gefangenen überfüllten Kerker: „Der Statthalter hat dich begnadigt, ein anderer muss dran glauben! Die Menge wollte es so, das dumme Pack!“ Barabbas arbeitet sich mühsam durch die am Boden sitzenden und liegenden Gefangenen zur Tür vor. Einige starren ihn bitter an, andere neidisch, zwei reichen ihm die Hand, nicken ihm wortlos zu. Endlich hat Barabbas die Tür erreicht, steht vor dem Soldaten. Der Wächter spuckt vor Barabbas aus, er  schließt die Finger seiner Rechten so fest um sein Schwert, dass die Knöchel weiß hervortreten: „Hau ab, wenn dir dein Leben lieb ist, du Schwein! Wenn ich nur daran denke, wie ihr die Einheit von Markus überfallen und alle niedergemacht habt. Am liebsten würde ich dich abstechen …“ Immer mehr steigt der Hass in dem Soldaten hoch: „Da begnadigt der Statthalter tatsächlich einen Aufständischen, weil der Pöbel das so will. Keine Courage, der Mann! Wenn das der Kaiser wüsste …“ Barabbas steht ungläubig vor ihm. Der Soldat schlägt zu, schlägt noch einmal zu, lehnt sich schwer atmend an die Tür und schreit: „Verschwinde, aber sofort!“
Da rennt Barabbas los, rennt an den Wachen vorbei, die ihm aus hasserfüllt-funkelnden Augen nachblicken, rennt immer weiter, durch die Straßen Jerusalems, vorbei an Häusern, an Läden, an Männern, Frauen, Kindern – nur raus aus der Stadt, die sein Grab werden sollte – heute, an diesem Freitag.

Erst als er die Stadtmauer hinter sich hat, geht er langsamer. Seine Brust zittert, sein Atem fliegt, sein Herz hämmert wild im Leib, Schweiß dringt ihm aus allen Poren. Plötzlich fällt er auf die Knie, sein ganzer Körper schüttelt sich wie in Krämpfen: Er lacht, lacht, lacht, bis ihm endgültig die Luft wegbleibt. Da hat er es also wieder einmal geschafft. Er, Barabbas, den sie den Satanskerl nennen, weil er wie der Teufel auftaucht und wieder verschwindet, weil er wie der Teufel kein schlechtes Gewissen kennt, weil er wie der Teufel einfach nicht tot zu kriegen ist. Ja, so ist er! Aber diesmal, diesmal hätte er nicht gedacht, dass er dem Henker noch einmal entkommt, diesmal schien er keine Chance zu haben …

Aber so war er halt: Er hatte keine Chance – und die nutzte er.

Und Barabbas denkt zurück – sieht sie plötzlich wieder vor sich: Seine Mutter, bitter und müde, aufgezehrt vom harten Leben in Armut, von der Sorge um den einzigen Sohn, den sie ohne Mann großziehen musste. Irgendwann erlöschte die Mutter wie eine herab gebrannte Kerze, ein geringer Hauch war schon zuviel für sie, sie wurde begraben, wie sie gelebt hatte: ärmlich, hässlich, einsam – im Leben und im Tode nicht der Rede wert. Barabbas hielt nun nichts mehr. Aller Hass, den er in seinen 15 Lebensjahren angestaut hatte, brach aus ihm hervor. Erst waren es nur Schlägereien und kleine Diebstähle – aber eines Nachts machte er zufällig Bekanntschaft mit einer Gruppe Verschwörer. Als er nach einer Diebestour zu seinem Versteck in einer Höhle zurückkehrte, saßen da zehn Männer in Beratung vertieft – er schreckte sie auf, lief fort, sie jagten ihn, fingen ihn, sie fesselten ihn. Aber das wäre gar nicht nötig gewesen. Solche Männer waren doch seine Helden von Kindheit an: Die sich nichts gefallen ließen; die sich wehrten gegen die römischen Besatzer, die das Land auspressten, gegen die feinen Priester und die ganze feige Bande des Hohenrates, die mit den fremden Herren gemeinsame Sache machten, gegen die reichen Kaufleute, die keinem noch so dreckigen Geschäft aus dem Weg gingen … Ja, und hier – in seiner Höhle – hatten sie einen Treffpunkt, verabredeten ihre tollkühnen Überfälle auf römische Marschkolonnen und Handelskarawanen. Gewiss, es dauerte seine Zeit, bis er den Argwohn der Verschwörer überwunden und ihr Vertrauen gewonnen hatte, aber dann stieg er schnell auf in ihren Reihen, machte Karriere als Zelot, als Eiferer, verbreitete mit seinen Kameraden Angst und Schrecken – um die Römer und ihre Komplizen in der jüdischen Oberschicht aus dem Lande zu jagen und den Weg zu bereiten für den Messias, der nach Gottes Willen der König der Juden werden sollte …

Tausendmal hatten sie der Gefahr getrotzt, tausendmal das Schicksal herausgefordert, rechts und links von ihm waren Kameraden gefallen, aber er hielt stand, ein ums andere Mal: Barabbas, der Satanskerl!
Alles ging gut – bis zu diesem verhängnisvollen Nachmittag im Februar. Am frühen Morgen hatten sie die lagernde römische Einheit überfallen, den beiden Wachen hatten sie lautlos die Kehle durchgeschnitten – und dann ging alles schnell. Die meisten der Soldaten waren gar nicht wach geworden – jetzt würden sie nie mehr aufwachen …
Aber irgendetwas musste doch schief gegangen sein, denn am Nachmittag, als sie sich zur Besprechung trafen, hatte sie eine römische Kohorte in ihrem Versteck umzingelt. Zuerst hatten sie sich gewehrt, hatten einige niedergestreckt, aber die meisten, die zu Boden sanken, waren Zeloten gewesen – einer nach dem anderen. Zuletzt waren sie nur noch zu dritt. Jeder Widerstand war zwecklos. Erst gab Jochanan auf, dann Levi und schließlich musste auch er, Barabbas, aus mehreren Wunden blutend, die Waffen strecken …
An das, was dann folgte, wollte er nicht lange denken: Die Folter durch die römischen Soldaten, die Verurteilung im Eiltempo, die Tage im überfüllten, dreckigen, stinkenden Kerker, wo er viel Zeit hatte, über die Frage nachzudenken: Wie waren ihnen die römischen Truppen auf die Schliche gekommen? Hatten sie einen Fehler gemacht? War es Zufall? Oder doch Verrat? Aber was heißt schon viel Zeit – wenn einem nur noch ein paar Wochen bleiben; denn dieses Eine war klar: Vor dem Passah-Fest würde er sterben. Das war sicher!

Und nun das Undenkbare: Er lebt – mehr noch! – er lebt und er ist frei!

Aber: Was hatte der Wächter gesagt, als er ihm die Begnadigung mitteilte: Ein anderer muss dran glauben. Wer das wohl sein mag? Wer wird wohl an seiner Stelle am Kreuz verrecken – für ihn, den Satanskerl Barabbas! Er kommt davon – der andere nicht. Und seine beiden Kameraden, Jochanan und Levi, die auch nicht.
Langsam setzt Barabbas seinen Weg fort, aber er geht nicht von Jerusalem weg, nein, es zieht ihn wieder in die Stadt, in der er um diese Zeit sterben sollte. Er kann nicht anders, ohne dass er es will lenken ihn seine Schritte ganz von selbst zur Schädelstätte Golgatha. Er will zu seinen Kameraden, die nicht so viel Glück hatten, wie er; aber vor allem will er sehen, wer der Mann ist, der für ihn sterben muss.

Die Nachmittagssonne brennt vom Himmel auf ein trockenes Stück felsiges Land vor den Mauern von Jerusalem. Hier werden die Todesurteile vollstreckt. Viele Menschen haben sich versammelt, Schaulustige, die sich am Elend der Allerelendsten weiden. Soldaten stehen Wache, keiner soll die Exekution stören. Aber Barabbas weiß: Es gibt kein sicheres Versteck als die Volksmasse. Und wer sollte ihn schon in Jerusalem vermuten – und dann auch noch hier. Und wenn ihn tatsächlich einer erkennt und ihn festhält, dann kann ihm Barabbas ins Gesicht lachen und sagen: „Vom Statthalter begnadigt.“

Aber eigentlich ist ihm nicht nach Lachen zumute. Er schaut auf die Todeskandidaten: nackt hängen die Verurteilten an Holzpfählen, die Körper von Peitschenhieben zerrissen, die Gesichter schmerzverzerrt. Barabbas sieht seine Kameraden Levi und Jochanan – aber sein besonderes Interesse gilt dem mittleren der Kreuze. Das wäre seins gewesen. Hier hätte er hängen sollen, hier sollte er bluten, hier sollte er verrecken. Hier sollte er sühnen für ein Leben voller Hass, voller Gewalt, voller Tod. Aber nicht er, ein anderer sühnt für ihn.

„König der Juden“ steht auf einer Tafel über seinem Kopf. So also stellen sich die Römer einen Judenkönig vor: Ein Kranz von Dorn ist seine Königskrone. Ein Schandpfahl sein Thron. Eine Welle des Zornes und der Empörung überflutet Barabbas: „Welch eine Beschimpfung tun uns die Römer hier an!“ Aber – so fährt es ihm plötzlich durch den Kopf – hat denn unser Kampf einen mächtigen, starken König der Juden an die Macht gebracht? Haben wir mit Überfällen und Gewalt das Reich des Messias herbeigeführt? Nein, nichts! Wir haben Blut vergossen – und der Friede ist dadurch nicht eingekehrt!

Der ‚König der Juden’ da am Kreuz, der hat wohl nie einen umgebracht – aber jetzt laden ihm die Römer und die jüdischen Priester all die Morde auf, die wir begangen haben und er muss sie tragen!

Barabbas muss näher heran an diesen seltsamen Heiligen. Die Menschenmenge drängelt, man schimpft und lacht. Es ist ein Volksfest ganz eigener Art: „He,“ schreit einer, „he, Messias, wolltest du uns nicht erlösen? Jetzt zeig uns mal, was du kannst!“ Barabbas zuckt zusammen: Ihn hat er dem Leben zurückgegeben, er weiß schon, was dieser da kann. Er kann an seiner Stelle leiden und sterben.

Der Judenkönig hebt seinen schmerzerfüllten Blick zum Himmel: „Vater vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun!“ „Der betet doch tatsächlich für seine Feinde, seine Richter, seine Henker, für den ganzen stinkenden Pöbel, für mich“, Barabbas durchzuckt es heiß.

Barabbas sieht auf seine Kameraden Levi und Jochanan. Um Jochanans Mundwinkel zuckt es böse. So ist es immer, bevor er seine Pfeile abschießt, manchmal sind diese Pfeile nur Worte die Wunden schlagen, oft haben sie eine Stahlspitze und einen Holzschaft und wen sie treffen, der hat keine Zeit, um mehr zu schreien. „Bist du nicht der Messias?“, fragt er nun mit bitterböser Stimme den Mann an seiner Seite: „Hilf dir selbst und uns!“ Aber bevor der sich zu ihm umwenden kann, ergreift Levi das Wort: „Schäm dich“, hört Barabbas ihn sagen, „lass ihn zufrieden. Wir kriegen hier nur, was wir verdienen. Aber er, er hat nichts Böses getan.“ Und dann blickt er auf den Judenkönig und sagt: „Jesus, denk an mich, wenn du in dein Reich kommst.“ Was wird der sagen – zu ihm, dem Mörder, dem Aufrührer – Barabbas hört genau hin, er spürt, das, was der jetzt sagt, das gilt nicht nur Levi, das gilt auch ihm, das gilt irgendwie allen Menschen: „Wahrlich, ich sage dir: Heute wirst du mit mir im Paradies sein!“

Barabbas verschleiern sich die Augen. Was für eine Verheißung für einen, der sein Leben verwirkt hat: Ich nehm dich mit in die Arme Gottes.  

Der König der Juden schreit noch einmal auf – sein Brustkorb fällt zusammen, der Kopf sinkt an die Brust – er ist tot.

Der römische Hauptmann schaut auf den toten Körper: „Ja, dieser Mann ist Gottes Sohn gewesen!“ Seine Stimme zittert bei diesen Worten. Barabbas stöhnt auf: Nicht der Satanskerl, der Gottes Sohn muss sterben – er darf leben. Darf das sein? Dass ein Satanskerl am Leben bleibt? Und seinem Kameraden Levi hat dieser Judenkönig noch mehr versprochen: Ewiges Leben im Paradies – bei Gott – in Herrlichkeit.

Und plötzlich wird Barabbas bewusst, wie ihn seine Mutter genannt hatte, ihn, den vaterlosen Jungen, damals nach seiner Geburt: Bar Abbas – Sohn des Vaters. „Weil du auf Erden keinen Vater hast, soll Gott dein Vater sein“ – so hatte sie ihm immer wieder erklärt. Ein Sohn des Vaters, ein Kind Gottes – kann er das jetzt endlich werden?

Gott befohlen!
Ihr Pfarrer Fromm