Gemeinde des Herrn Jesus Christus, Schwestern und Brüder,
unsere Jahreslosung für 2020 lautet: Ich glaube, hilf meinem Unglauben.
Diese Losung ist ungewöhnlich. Oft werden göttliche Zusagen als Losung gewählt – sie können im vor uns liegenden Jahr Hilfe, Weisung, Trost und Segen sein. 2020 aber wurde ein Satz ausgewählt, der nicht aus dem Mund Gottes, sondern aus dem Mund eines Menschen kommt, genauer, aus dem Mund eines verzweifelten Vaters.
Der Satz: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben“ stammt aus einem Wunderbericht:
Ein Vater hat seinen epilepsiekranken Sohn zu Jesus gebracht. Er hat Hoffnung, dass Jesus helfen kann – aber er ist sich nicht wirklich sicher: „Wird Jesus meinen jungen heilen – oder muss ich am Ende des Tages doch mit einem kranken Kind heimkehren?“
So fällt seine Bitte um Hilfe seltsam zwiespältig aus, denn wenig Glaube und viel Zweifel mischen sich in den Worten an Jesus: „Wenn du etwas kannst, dann hilf!“ Das ist ziemlich hart! „Wenn du etwas kannst, …“ So hat sonst keiner mit Jesus gesprochen – außer denen, die ihn verspotten wollten. Jesus weist den Mann trotzdem nicht einfach zurück: „Du zweifelst an mir – dann verschwinde!“ Jesus erkennt: Der Mann hat eben doch Glauben – wenn auch nur ein, ganz, ganz, ganz kleines bisschen.
Jesus stärkt den winzigen Glauben des Mannes, dieses kaum wahrnehmbare Restchen auf dem Grund des Herzens. Er antwortet: „Alles ist dem möglich, der glaubt!“ Der Vater fühlt, wie neues Vertrauen in ihm wächst, wie sein Glaube zunimmt – aber sein Zweifel eben doch noch nicht überwunden ist. Er ruft aus: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben.“ Und auf dieses Bekenntnis hin, das zugleich Glaubens- und Unglaubensbekenntnis ist, macht Jesus den Knaben gesund. „Alles ist dem möglich, der glaubt“ – Glauben, selbst wenn er erst im Keimen, im Sprießen ist, öffnet verschlossene Wege, lässt Taten der Liebe geschehen, überwindet den Tod.
Was aber ist Glaube? Wir Christen verwenden das Wort ja fortwährend – aber machen wir uns auch bewusst, was es bedeutet?
Wenn wir, Schwestern und Brüder, einen x-beliebigen Menschen auf der Straße fragen würden: „Was heißt Glauben?“ – dann erhielten wir wahrscheinlich die Antwort: „Glauben heißt: Nicht wissen!“
Wird also der Epileptiker geheilt, weil der Vater nichts weiß? Weil der schlicht keine Ahnung hat? Und wenn Glauben heißt, man hat keine Ahnung, was ist dann Unglaube? Hat der Ungläubige das Wissen, das dem Gläubigen fehlt? Ist der Ungläubige gescheiter als der Gläubige? Einige überzeugte Atheisten würden das sicherlich so sagen, aber eigentlich sollten selbst sie wissen: das ist Quatsch. Viele der intelligentesten Menschen, die jemals gelebt haben, vertrauten fest auf Jesus – andererseits gibt es genug Atheisten, die nicht einmal das Wort „Atheist“ kennen und gleich gar nicht wissen, was es heißt.
Schauen wir also genau hin, was „glauben“ bedeutet – und fangen dabei mit typischen Alltagsszenen an:
Eine Frau geht mit ihrem Mann im Supermarkt einkaufen. Fragt Sie: „Schatz, holst du bitte schon Milch, während ich mich beim Metzger anstelle.“ Antwortet Er: „Wo steht denn die?“ Sie: „Ich glaube, im Kühlregal hinten links.“
Verwendet die Frau „ich glaube“, um zu sagen „ich weiß es nicht“? Nein, im Gegenteil: sie erinnert sich, die Milch an dieser Stelle schon mal gesehen zu haben. „Vielleicht“ – so denkt sie – „wurde das Kühlregal ja in der Zwischenzeit umgeräumt. Wenn nicht, dann ist die Milch noch dort zu finden!“ Darum „ich glaube“. Für uns heißt das: Glaube hat – wohlgemerkt im täglichen Leben! – etwas mit Erinnerung zu tun.
Achten wir auf den nächsten Zusammenhang, indem wir den Begriff „Glauben“ im Alltag verwenden: Eine Frau geht zum Friseur. Sie will sich die Haare färben lassen. Der Friseur stellt ihr verschiedene Farbtöne vor. Darauf die Frau: „Ich glaube, ich versuche das Aschblond.“
Meint die Frau mit „ich glaube“, ich weiß nicht? Nein, im Gegenteil – sie weiß, dass sie sich die Haare aschblond färben lassen will, aber sie ist sich nicht sicher, ob ihr die Farbe stehen wird. Sie muss – ohne letzte Sicherheit im Voraus – das Risiko eingehen, es auszuprobieren. Glaube hat also – wohlgemerkt im täglichen Leben! – etwas mit der Bereitschaft zu tun, Erfahrungen zu sammeln.
Nehmen wir noch ein drittes und letztes Beispiel: Ein Junge kommt mit einer Sechs aus der Schule nach Hause. Er ist fix und fertig, schwankt zwischen Heulen und wütendem Schreien. Der Vater nimmt ihn in den Arm und sagt: „Du wirst das Schuljahr schaffen. Ich glaube an dich.“
Macht der Vater dem Sohn dadurch Mut, dass er ihm zu verstehen gibt: „Ich weiß nicht, ob du die Klasse packen wirst?“ Keine Spur! Der Vater vertraut darauf, dass der Junge die Intelligenz, den Ehrgeiz und den Fleiß mitbringt, um sich hoch zu rackern und die Klasse mit vernünftigen Noten zu beenden. Glaube hat also – wohlgemerkt im täglichen Leben! – etwas mit Vertrauen zu tun.
Offensichtlich stimmt die beliebte Redensart: „Glauben heißt: Nicht wissen“ nicht einmal für die Alltagssprache – und schon gar nicht stimmt sie für das Evangelium. Aber das, was wir an unseren Beispielen aus der Alltagssprache gelernt haben, das kann uns dem näher bringen, was Glauben im Evangelium heißt.
Wir haben erkannt: Glauben hat etwas mit Erinnerung zu tun. Wir Christen erinnern uns an das, was Gott Großes getan hat: Der Jesus, seinen Sohn, in diese Welt hat kommen lassen. Der uns um den Preis des Kreuzestodes Jesu erlöst hat. Der Jesus von den Toten auferweckt hat. Wir können nicht glauben ohne Erinnerung – und das Gedächtnis der Heilstaten Gottes ist die Bibel. Christlicher Glaube beginnt mit der Bibel und bleibt immer auf sie angewiesen. Und wenn wir als Christen sagen: Ich glaube der Bibel – dann heißt das nicht: Ich weiß nicht, was in der Bibel steht. Sondern das heißt: Ich weiß, was in der Bibel steht – und es ist mir wichtig, lebenswichtig.
Wir haben außerdem erkannt: Beim Glauben geht es darum, sich auf etwas einzulassen: Man muss es wagen, eigene Erfahrungen zu sammeln. Als Jesus seine Freunde aussucht, ruft er sie mit den Worten: „Folgt mir nach!“ das heißt: „Geht mit! Lernt mich kennen! Hört meine Worte! Prüft meine Wunder! Haltet bei mir aus, wenn es hart auf hart kommt!“ Dieses Risiko muss jeder Christ eingehen. Er muss alles auf eine Karte setzen. Er muss sein ganzes Leben einbringen. „Ich glaube Jesus“ – heißt für einen Christen nicht: Ich habe keine Ahnung, ob es Jesus gibt oder nicht. „Ich glaube Jesus“ heißt: „Ich riskiere es, meine eigenen Erfahrungen mit Jesus zu sammeln. Vielleicht werde ich enttäuscht! Vielleicht werde ich von anderen ausgelacht! Vielleicht schenkt er meinem Leben Sinn und Fülle! Wie es auch ausgehen mag: Kein anderer kann diese Erfahrungen für mich machen – das muss ich schon selber. Und ich riskier’s!
Wir haben zuletzt erkannt: Glauben ist Vertrauen. Ich vertraue jemandem. Ich vertraue mich ihm an. Wenn wir Christen sagen: „Ich glaube an Gott“, dann heißt das nicht: „Ich bin zwar nicht sicher, dass es einen Gott gibt, aber ich bilde mir das halt mal ein, weil das Leben so leichter wird.“ Sondern: „Ich vertraue Gott. Er wird alles gut machen – auch wenn ich nicht weiß, wie er das tun wird und davon zur Zeit noch nichts erkennen kann. Ja, auch wenn er mich mitten durch Enttäuschung, Krankheit und selbst den Tod hindurchführt. Was Gott tut, das ist wohlgetan!“
Was bedeuten diese Überlegungen nun mit Blick auf den Vater des kranken Jungen? Helfen sie uns wirklich bei der Auslegung des biblischen Heilungsberichts? Aber sicher!
Der Mann kommt zu Jesus, weil er von anderen gehört hat: Jesus kann Menschen gesund machen – er hat sogar einem Blindgeborenen das Augenlicht gegeben. Der Vater erinnert sich in seiner Verzweiflung daran.
Er macht sich zu ihm auf den Weg – bereit, mit Jesus seine Erfahrung zu machen. „Wenn du etwas kannst, dann hilf“ – das heißt ja: ich hoffe es zwar irgendwie, aber ich bin mir ganz und gar nicht sicher, dass du wirklich etwas für uns tun kannst. Die Erinnerung allein reicht also nicht aus – ganz besonders dann nicht, wenn es die Erinnerung an fremde Erfahrungen ist. Im Glauben geht es nicht nur um das, was andere irgendwann erlebt haben: Es geht um mich selbst, hier und heute! Der Mann lässt sich darauf ein, diese Erfahrung mit Jesus selber machen zu wollen.
Und als Jesus sich ihm zuwendet, ihn nicht fortschickt, seinen schwachen Glauben stärkt, Interesse zeigt an dem Jungen und seinem Leiden, da setzt der Mann all sein Vertrauen in ihn. Er weiß, wie anfangshaft, wie gering sein Vertrauen ist, aber es ist da: „Ich glaube, hilf meinem Unglauben.“
Gemeinde des Herrn Jesus Christus, Schwestern und Brüder,
die Jahreslosung für 2020 lädt uns ein, Erfahrungen mit dem Glauben zu sammeln – und dabei den Unglauben immer mehr mit Gottes Hilfe zu überwinden.
Dafür müssen wir im Blick behalten: Es gibt drei Aspekte des Glaubens: Ich glaube, dass …; ich glaube dir …; ich glaube an dich … . Keiner dieser drei Aspekte hat auch nur das Geringste mit „nicht wissen“ zu tun. Aber mindestens die letzten beiden – und eigentlich alle drei – haben etwas mit Erfahrung zu tun.
Ob wir Erfahrungen mit Gott machen, haben wir selber nur sehr begrenzt in der Hand. Wir sollten uns jedoch nicht von vornherein dagegen verschließen. Und auf keinen Fall sollten wir – weil uns eine Erfahrung selber fehlt – sie einem anderen absprechen.
Zusammengefasst: Glauben heißt nicht, eine vorgefasste Meinung über ETWAS zu haben – Glauben ist Beziehung zu einem DU. Von diesem DU, mit diesem DU und auf dieses DU hin lebt der Gläubige:
DU und ICH, MEIN Gott.
Diesem DU immer näher zu kommen, diese Beziehung immer intensiver zu leben, dieses Vertrauen durch Erfahrung wachsen zu lassen, soll unser Glaubensvorsatz für 2020 sein.
In diesem Sinne mag dann die Jahreslosung für uns zum Gebet werden:
Ich glaube, hilf meinem Unglauben. Amen.
Predigt vom 12.01.2020, Martin Fromm