Gemeinden ohne Zukunft?

Wie sich die EKD die Zukunft der evangelischen Kirche vorstellt

Drei Jahre lang hat sich das Z-Team der EKD mit der Erosion der Kirche befasst, um nun das Papier: „Kirche auf gutem Grund“ vorzulegen. Während in vielen Bundesländern Sommerferien sind, wobei  sich die Urlaubsplanung schwieriger gestaltet als jemals zuvor; während die Menschen in viele Branchen nicht mit dem Ausspannen, sondern schlicht mit dem wirtschaftlichen Überleben beschäftigt sind und alle miteinander gebannt auf die Entwicklung der Infektionszahlen schauen, erklärt die EKD, wie sie sich die Zukunft der Kirche vorstellt. Die Publikation der „11 Leitsätze für eine aufgeschlossene Kirche“ gerade zu diesem Zeitpunkt weckt den Verdacht, dass die angeblich intendierte Diskussion nicht gewünscht ist – geschah sie doch, wie Hannah Bethke (FAZ) zurecht anmerkte „beinahe unbemerkt von der Öffentlichkeit“. Diese Annahme wird durch den Stil des Papiers bestätigt: Es wird kein Gespräch eröffnet, es wird dekretiert. Es wird dekretiert, dass die Zukunft der Kirche nicht in den Gemeinden liege, sondern im Gegenteil: in der möglichst flächendeckenden Zerstörung der Gemeinden.

Die Gemeinden, die – aus EKD-Sicht – „selbstbezügliche“ Einheiten sind, werden „einem dynamischen und vielgestaltigen Miteinander wechselseitiger Ergänzung“ weichen. Was verbirgt sich hinter dieser fluiden „Größe“? Das geht aus dem Papier nicht hervor, aber in der Praxis dürfte dieser Alptraum von Kirche in erster Linie als regionaler Personalpool umgesetzt werden. An die Stelle der verschiedenen Ortsgemeinden mit ihren eigenen theologischen, liturgischen, aber auch sozialen und kulturellen Prägungen tritt ein geographischer Raum, in dem kirchliche „Versorgungszentren“ (mein Ausdruck) bespielt werden. Versorgungszentrum Jugend, Versorgungszentrum Senioren, Versorgungszentrum Familien, Versorgungszentrum Gottesdienst – aber halt: gerade der Gottesdienst wird ja wegen mangelnder Effizienz von der EKD zur Disposition gestellt: „Die evangelische Kirche braucht eine differenzierte und analytisch aufmerksame Selbstwahrnehmung ihres geistlich-gottesdienstlichen Lebens, um die Bedeutung des traditionellen Sonntagsgottesdienstes in Relation zu setzen zu den vielen gelingenden Alternativen gottesdienstlicher Feiern und christlicher Gemeinschaft.“ Diese Versorgungszentren im Großraum werden pastoralen Dienstleistern delegiert, deren „besondere Begabungen“ durch ‚die Kirche‘ (man wüsste gerne, was die Verfasser darunter verstehen – im Zweifelsfall wohl sich selbst!) erkannt und gezielt gefördert werden. Gerade dieses „dynamische“ Kirchenverständnis wirkt aber neuen Strukturbildungen auch entgegen – so dass die „Versorgungszentren“ eben auch keine festen Einheiten bilden. „Befristete Projekte, Erprobungsräume und kreative Experimente“ sollen eine – materiell vergütete – Bedeutung bekommen. Die verschiedenen langfristigen geistlichen Prägungen gehen dabei ebenso verloren, wie die Gemeinden selbst. Es entsteht ein gleichförmiges geistliches Profil, wie Thies Gundlach gegenüber idea verriet: „Der Anspruch der Volkskirche ist es …, religiös unaufgeregt und aufgeklärt zu sein“. Man fragt sich, wo bei diesem Profil noch Raum sein soll für Evangelikale, für Charismatiker, für bekenntnisgebundene Lutheraner und Reformierte, für Pietisten aus den Landeskirchlichen Gemeinschaften, ja, selbst für entschiedene Barthianer, die die Aufklärung für den Sündenfall der Theologie halten.      

Während Gemeinde und Theologie eingeebnet werden, wird die Fähigkeit zur „individuellen Schwerpunktsetzung“ für das pastorale Personal ebenso in den Rang einer Schlüsselqualifikation erhoben, wie die Kompetenz als „Netzwerker“. Der Pfarrer als „eierlegende Woll-Milchsau“ hat ausgedient. Man mag behaupten, dass die Schlüsselqualifikation des Generalismus, die für diesen Berufsstand bisher kennzeichnend war, eine Überforderung dargestellt habe – aber es ist eine Tatsache, dass die Glaubens- und Lebensgemeinschaft Gemeinde hier eine verbindliche und verbindende Schnittstelle durch alle Generationen und Aufgabenbereiche hatte. Zugleich macht es einen besonderen Reiz des  Pfarrberufs aus, morgens im Schulunterricht, nachmittags auf Friedhof, abends im Bibelgespräch zu sein und zwischendurch Geburtsbesuche zu machen – die lebenspraktische Dimension der Predigten und die Reflexion der theologischen Überzeugungen des Pfarrers, die sich eben nicht nur im Kindergottesdienst, sondern auch in scharfen Diskussionen mit kritischen Jugendlichen und im Gespräch mit schmerzerfüllten Trauernden bewähren müssen, hängen daran.          

Die Kirchengemeinde, die sich als feste Weggemeinschaft von der Wiege bis zur Bahre versteht; die Kirche im Dorf und die Stadtteilgemeinde, in der sich die Gemeindeglieder untereinander kennen und die ehren- und hauptamtlichen Mitarbeiter mit ihnen und miteinander vertraut sind, wo der Pfarrer eine Bezugsperson darstellt, zu der selbst für die Kirchendistanzierten der Weg kurz ist, wird zum Abschuss freigegeben. Die Kirchenvorstände, die zentrale Entscheidungsinstanz der – von der EKD verachteten – „Vereinskirche“, werden faktisch entmachtet. Es geht nicht mehr darum, ob Pfarrer und Gemeinde harmonieren, wobei den Kirchenvorständen die entscheidende Bedeutung zukommt, sondern ob der „Netzwerker-Theologe“ (er kann weder als Pfarr-Herr noch als Pastor (also Gemeindehirte) angesprochen werden) sich in ein „überparochiales“ Team einfügt. Entlarvend ist in diesem Zusammenhang die Aussage: „Kirchliches Handeln wird effektiver, wenn es gelingt, das Vertrauen in stellvertretende Entscheidungsfindung zu stärken.“  Die Kirche wird also direktiv gelenkt – und die Kirchengemeinden und die Mitarbeiter haben dies applaudierend zur Kenntnis zu nehmen.

Im Vorwort des  Positionspapiers nehmen die Verfasser die Corona-Pandemie auf. Dies geschieht gleich am Anfang mit einem – angesichts von Hunderttausenden Toten – höchst unangemessenen Witzchen. Die „11 Leitsätze für eine aufgeschlossene Kirche“ sind mit: „Lock up!“ („schließ auf“) überschrieben (natürlich eine Anspielung auf den Lockdown) – das „c“ wurde durchgestrichen und ein „o“ darüber gesetzt („sieh auf“). Will die EKD damit ein geistliches Hoffnungszeichen für eine – in ihren Grundfesten erschütterte – Welt setzen?

Im Text selbst sind dann allerdings Lerneffekte aus der Pandemiesituation nicht erkennbar, was den Verdacht nahelegt, dass das Papier schon vorher fertig war und nicht mehr überarbeitet wurde! Wie wäre es sonst zu erklären, dass die Zukunft der Kirche ausgerechnet in Kooperationsmodellen gesehen wird – also darin, dass Leute von überall aus der Region  zusammengekarrt werden sollen, um eine „flexible Präsenz von Kirche an wechselnden Orten“ zu gewährleisten?

Wir alle werden für die Zukunft lernen müssen, mit Pandemien zu leben. Als Kirche müssen wir in der  Lage sein, unsere Aufgabe unter diesen Bedingungen wahrnehmen zu können. Kein Mensch kann heute sagen, wann – und ob überhaupt jemals –  wieder ein Kirchentag möglich sein wird – aber man braucht auch keinen, wenn Kirche am Ort in kleinen, verbindlichen Einheiten gelebt werden kann. Davon zu phantasieren, dass große, überparochiale, milieu-, generationen-, konfessionenübergreifende Einheiten die Zukunft der Kirche sein sollen, weist auf Resistenz gegenüber Erkenntnissen aus der globalen Covid19-Epidemie hin. Kleine, verbindliche und von gegenseitigem Vertrauen geprägte Einheiten am Ort sind der Raum, in dem Kirche Pandemien trotzen und ihren Auftrag erfüllen kann – so wie sie der Raum waren, in dem die Kirche Verfolgung, Kriegsläufen und Seuchen in der Vergangenheit standhielt und noch in der Gegenwart in vielen Ländern standhalten muss. Dass Kirche – wie Thies Gundlach im Interview mit idea erklärte – Institution, Organisation und Netzwerk ist, wobei diese Dimensionen durch die Kirchenleitung zusammengehalten werden müssen, mag aus der Perspektive der EKD stimmen, neutestamentlich gesehen aber ist Kirche schlicht GEMEINDE. Sie ist der Ort, an dem Christus selbst in Wort und Sakrament wirksam handelt, um Menschen durch den Heiligen Geist zum rettenden Glauben zu führen und mit den anderen Gläubigen in geistlicher Gemeinschaft zu vereinen, damit sie als Priester vor dem himmlischen Vater für die erlösungsbedürftige Welt eintreten (apostolische Lehre, Taufe, Abendmahl, Gebet und Gemeinschaft sind die Kennzeichen der Kirche laut Apg 2,41-42). Die Gemeinde ist in sich ganze Kirche, die keiner Ergänzung durch irgendwas oder irgendwen bedarf. Die Gemeinden haben die Verheißung des Herrn Christus: „Siehe, ich bin bei euch alle Tage, bis an der Welt Ende“ – nicht irgendwelche kurzlebigen Kirchenbünde wie die EKD, die vor gerade einmal 75 Jahren ins Dasein getreten ist.   

Die Kirchengemeinden aber werden, wie Gerhard Wegner in seinem Kommentar für die „Zeitzeichen“ schreibt, in dem EKD-Papier zu den „Sündenböcken des kirchlichen Niedergangs“ gemacht.  Während die EKD den Gemeinden anlastet, was sie gar nicht verursacht haben, eignet sie sich andererseits schamlos die Leistungen der Gemeinden an, die das positive Image von Kirche ausmachen. Mit Blick auf die aktuelle Pandemie-Lage etwa wird behauptet: „… die Coronakrise [hat] vor Augen geführt, wieviel kreatives Potential die evangelische Kirche kurzfristig aufbringen kann, um Freiheiten zu bewahren und die kommunikative Gemeinschaft des Evangeliums auch unter veränderten Bedingungen zu leben.“ Nun, die Öffentlichkeit hat keinerlei „kreatives Potential“ bei DER evangelischen Kirche wahrgenommen – sondern ein großes Schweigen der Kirchenleitungen, das in seiner Ratlosigkeit schlicht peinlich war (die kritischen Stellungnahmen dazu in den Medien sind Legion). Wer aktiv wurde – oft bis zur Belastungsgrenze der Ehren- und Hauptamtlichen – waren die Gemeinden. Sie haben, wie der ehemalige Militärbischof Hartmut Löwe in einem wichtigen Beitrag für die FAZ schrieb: „viel und Erstaunliches geleistet.“ Nach einem hohen Lob für den Einsatz auf Gemeindeebene, um das geistliche Leben und die (gerade in der Krise dringend benötigte) Seelsorge aufrecht zu erhalten oder  sogar auszuweiten, fällt er das lapidare Urteil über die Kirchenleitungen: „Aber diejenigen, die sich sonst an Stellungnahmen zu allem und jedem überbieten, finden kein geistliches Wort.“ Die Kirchenleitungen haben die Gemeinden – von der Zusendung von Hygienekonzepten abgesehen – in der Pandemie im Wesentlichen allein gelassen. Es waren Ehren- und Hauptamtliche am Ort, die den Menschen in vielfacher Form Zuspruch, Trost und Hoffnung aus Gottes Wort gespendet haben. Es waren die Pfarrer, die in stundenlangen Telefonaten einsamen Menschen zugehört haben. Es waren die Gemeinden, die in dunkler Zeit „Licht der Welt“ waren – und die dabei jede Menge Kreativität, Engagement und Opferfreudigkeit unter Beweis gestellt haben. In vielen Gemeinden etwa wurde das geistliche Leben dadurch aufrecht erhalten, dass an  Gemeindeglieder Hausandachten, Predigten und Gebete für die Karwoche und die österlichen Freudentage, sowie alle Sonntage ausgeteilt wurden – teilweise wird dies bis heute fortgesetzt. Die Rückmeldungen zeigen: Viel mehr als bei digitalen Angeboten, fühlen sich die Menschen ihrer Gemeinde nahe, wenn ihnen die Andacht ins Haus gebracht wird – geschrieben von ihrem Pfarrer, ausgetragen von ihren Mitchristen am Ort, mitgebetet von vielen Nachbarn. Hier erfahren sie Gemeinschaft – selbst wenn sie allein mit sich in Quarantäne sind. Gemeindeglieder, die selten bis nie einen Gottesdienst besucht haben und eine Gottesdienstübertragung auch nicht anschauen würden, lasen und lesen Woche für Woche die ausgeteilte Andacht. Die missionarischen Chancen und Möglichkeiten sind in der Pandemie sehr groß. Wer allerdings – wie die EKD – in der Mission lebensdienliches geistliches, diakonisches und politisches Handeln sieht, das „in enger und nachhaltiger Abstimmung mit zivilgesellschaftlichen Partnern“ geschieht, der hat den mit Gott ringenden, den trauernden, den isolierten und den sterbenden Menschen nichts zu geben, was über das Angebot des Roten Kreuzes hinausginge und ist – in einer Situation wie dieser – zum Schweigen verurteilt. Es waren und sind in dieser leidvollen Zeit die Gemeinden, die in ihrem Umfeld den bezeugen, der der einzige Trost im Leben und im Sterben ist: Jesus Christus!          

Die Gemeinden, die sich der Aufgabe gestellt haben, um Jesu willen für die Menschen da zu sein, gehen gestärkt aus dieser schweren Zeit hervor. Sie sind unter dem Druck der Pandemie zusammengewachsen – und haben neu gelernt, vieles auf viele Schultern zu verteilen und die Belastungen gemeinsam zu tragen. Die Gemeinden sind das A-Team der Kirche – und sie werden hoffentlich auch dem Druck eines Z-Teams standhalten!    

 

Gemeinden ohne Zukunft? Ein Kommentar von Pfarrer Martin Fromm

1 thoughts on “Gemeinden ohne Zukunft? Ein Kommentar von Pfarrer Martin Fromm

  • 4. Mai 2021 um 08:00
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    Nachdem ich den Feste-Burg-Kalender 3. und 4.Mai 2021 gelesen habe, will ich meiner Freude Ausdruck geben, wie schön Sie den Empfang Jesu von Seiten seiner Anhänger dargestellt haben!! Das versteht jedes Kind! – Und nun obiger Kommentar: Schon lange heißt es für die Christen: „Wo zwei oder drei…“ – das sagt der HERR ! Als Emerit der SELK habe ich reichlich sontnags in der Diaspora zu tun (Das tut gut, wenn Verkündigung und Anbetung, HERREN-Mahl und Gemeinschaft noch gelebt werden.
    Bleiben Sie tapfer in Ihrer Glaubenszuversicht! Ihr LIenhard Krüger, Herderstr.9, 23564 Lübeck

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