Liebe Gemeinde!
In Lemgo, der westfälischen Hansestadt, soll sich folgende Geschichte zugetragen haben: Schon vor 1520 kursierten Schriften Martin Luthers unter den geistig regsamen Bürgern der Stadt. Die Namen Martin Luthers und seiner Gefährten hatten einen guten, verheißungsvollen Klang bekommen.
Aus Lemgo pilgerten sie die 22 Kilometer nach Herford. Dort wurde schon evangelisch gepredigt, so weiß es die Geschichte.Die Lemgoer ließen sich von der evangelischen Predigt in deutscher Sprache begeistern. Das brachten sie zurück nach Lemgo. Dort in der Nikolaikirche und in der Gertraudenkapelle sangen sie vor und nach der Messe. Das erbitterte und erregte den Grafen. Der Magistrat entschuldigte sich und erbot sich, „auf die Rottierer zu achten; sie möchten in keine ungnädige Strafe fallen“. So schickte der Bürgermeister Flörke den Ratsdiener in die Kirche. Der sollte die allzu sangesfrohen Kirchgänger feststellen. Er kam zurück und meldete: „Herr Bürgermeister, sie singen alle.“ Der Bürgermeister Flörke rief darauf aus: „Ei, alles verloren!“.  Nach diesem Stoßseufzer legte er sein Amt nieder.   (vgl. Karl Meier-Lemgo, Geschichte der Stadt Lemgo, Lemgo, 3.Auflage 1981,  S. 78)
Die Reformation als Singebewegung – eine solche Beschreibung ist gewiss auch zutreffend und Luther hat sich ja auch selbst als Liederdichter und Komponist betätigt. Aber die Gründe, die zum Singen führten, waren vielmehr geistlicher Natur. Das Evangelium von der Liebe Gottes ist der Urgrund des geistlichen Singens.
1. Was Luther zum Singen brachte.
Es lohnt sich, dass wir uns das reformatorische Erleben Luthers heute wieder neu mit unserem Predigtwort veranschaulichen, denn man kann sich die ungeheure Kraft und Freude kaum anders erklären als mit einem Blick auf seine Biografie. Luther war ein Mensch, der sich nicht mit schnellen Lösungen zufriedengab. Großes entsteht meistens dort, wo ein Mensch sich nicht vorschnell zufriedengibt. Ich sprach mit einem Künstler. Wir standen in seinem Atelier vor einem aus meiner Sicht fertigen Kunstwerk an dem er aber immer noch weiterarbeitete. Ich fragte Ihn eigentlich so nebenbei: „Wann werden sie damit fertig sein?“ und er antwortete für mich verblüffend: „Nie, ich werde mit so etwas nie fertig! Ich höre irgendwann auf daran zu arbeiten.“
Solch ein Theologie -„Künstler“war der Mönch Martin Luther.
Der normale Christenmensch denk sich bis heute: „Irgendwann wird Gott schon zufrieden sein, wenn ich meinen Mitmenschen gedient habe, wenn ich etwas mehr gearbeitet habe, als ich muss, wenn ich gebetet habe, wenn ich ordentlich Geld in die Diakoniekollekte gegeben habe – denn wenn ich schon keine Zeit habe, mich um meine Mutter zu kümmern, dann spende ich wenigstens ordentlich Geld, damit mein schlechtes Gewissen ablässt. Ja, mein permanent schlechtes Gewissen, dass ich mich nicht genug um Menschen in Not kümmere, möge endlich von mir ablassen, ablassen!“ Ihr merkt, das mit dem Ablass ist uns gar nicht so fremd!
Überhaupt meine ich, dass die Fragen der Reformationszeit hochaktuell sind.
Ich schlage eine Zeitung auf und sehe die Fastenregeln der Firma Almased, die den Fastenvorschriften der Lutherzeit in nichts nachstehen Drei Schritte zur Planfigur: „1. Muskelaufbau fördern, 2. Nährstoffe optimieren, 3. Regeneration verbessern.“ Und auch hier geht es ja um die Frage: „Wie werde ich gerecht?“ – damals den Erwartungen Gottes, heute den Erwartungen der Menschen. Wie viele Fastenkuren muss ich mit meinem Ablassgeld bezahlen, damit ich gerecht bin?
Die Frage nach der Gerechtigkeit ist heute verweltlicht, aber sie ist immer noch genauso bedeutend wie damals.
Einer wie Luther hat sich hier nicht zufriedengegeben, er war mit der Kunst der Theologie nicht fertig: „Wenn Gott der Gerechte ist, wie kann er dann mit meinen Spendenbescheinigungen wie ein Finanzamt zufrieden sein? Wenn Gott der vollkommen Gerechte ist, wie kann er dann mit meinem Fasten zufrieden sein? Wenn es um Glauben geht, wie kann die Finsternis meines Herzens Gott, der das Licht der Welt ist, zufriedenstellen? – Nochance! Noway!“
In dieser Zeit um 1515 war Luther mit der Auslegung des Römerbriefes beschäftigt und er bleibt hängen schon im ersten Kapitel, Römer 1,17: „Denn darin wird offenbart die Gerechtigkeit Gottes, welche kommt aus Glauben in Glauben.
“Dieser Genitiv: „Gerechtigkeit Gottes“ ließ ihn nicht los. Luther war Sprachwissenschaftler, so dass er nach und nach verstand: „Gerechtigkeit Gottes“ ist nicht die Gerechtigkeit, die Gott hat, sondern als Genitivus objektivus die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt. Und plötzlich liest er dies im ganzen Römerbrief, auch in unserem Predigtabschnitt im 5. Kapitel: „Da wir nun gerecht geworden sind durch den Glauben, haben wir Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesus Christus
Originalton Luther: „Also ist es Gottes Gerechtigkeit, die uns gerecht macht und heilt. Und diese Worte sind mir immer angenehmer geworden. Diese Einsicht hat mir der Heilig Geist auf dieser Kloaka auff dem Thorm gegeben.“(WA Tr 3, 228 (Nr.3232b))Reformation auf dem „Stillen Örtchen“ – der Heilige Geist geht wundersame Wege!
Von Stund an war wieder klar: Nicht unsere Spendenquittungen geben uns Frieden mit Gott, sondern Jesus Christus. Nicht dass ich Menschen in Not helfe gibt mir Frieden, sondern Jesus Christus. Nicht mein politisches Engagement befriedigt mein christliches Gewissen, sondern Jesus Christus allen.
„Ich höre irgendwann auf, daran zu arbeiten“ – und lasse Gott machen! Was für eine Befreiung! Wenn das nicht Grund zum Singen ist! Und wenn die Kantorei jetzt nach der Predigt sing: „Verleih uns Frieden gnädiglich!“, dann ist damit auch dieser Friede mit Gott gemeint, von dem aller menschlicher Friede letztlich abhängt.
2. Und jetzt etwas ganz Ketzerisches: Wir finden Frieden mit Gott nicht durch „unseren Glauben!“ Aber sagt nicht der Apostel Paulus in unserem Predigtwort: „durch ihn haben wir auch den Zugang im Glauben zu dieser Gnade“. Ging es in der Reformation nicht darum, dass auf den Glauben ankommt und nicht auf die Werke?
Dennoch ist es heute notwendig zu sagen: Gerecht vor Gott werden wir nicht durch unseren Glauben, sondern durch den Glauben, den Gott uns schenkt, denn auch Glauben können wir nicht allein, sondern nur aus Gott.
Ganz unbemerkt haben wir Protestanten im Gefolge der Aufklärung und der Glaubensströmungen des 18. Jahrhunderts den Glauben zu einem Werk gemacht. Glaube ist aber unverdientes Geschenk des Heiligen Geistes, „denn die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsre Herzen durch den Heiligen Geist, der uns gegeben ist.“ Unser Leben ist von Natur aus wie ein Kelch, ein Gefäß, das leer ist. Gott füllt uns mit Glauben. „Die Liebe Gottes ist ausgegossen in unsere Herzen“, sagt der Apostel Paulus.
Dann sagt Paulus weiter:„Durch Jesus Christus haben wir auch den Zugang im Glauben zu dieser Gnade“. Volker Ernsting, Karikaturist aus Bremen, hat in seinem Buch „Das kleine Testament“ eine Karikatur gezeichnet, die den Sachverhalt treffend beschreibt. Jesus ist mit seinen Jüngern dargestellt. Im Vordergrund des Bildes gleichmäßig verteilt dicke Gitterstäbe. Dahinter die Jünger in blau gestreifter Sträflingskleidung. In ihrer Mitte steht Jesus und bricht ein großes Weißbrot. Im gebrochenen Brot aber kommt eine Feile zum Vorschein. Darunter der Bildtitel: „Jesus, der Mann mit der Feile“.
Er feilt uns raus aus den Gefängnissen, die wir uns immer wieder selbst mit unser Schuld und Sünde bauen. Er nimmt uns an unseren Händen und führt uns in die Freiheit der Kinder Gottes – im Brotbrechen. Wenn das nicht Grund zum Singen ist!
3. Ein weiteres tritt nun hinzu: Das durch Christus befreite Christenleben bewährt sich im Alltag. Paulus zeichnet einen Glaubenszyklus: „Bedrängnis bringt Geduld,4Geduld aber Bewährung, Bewährung aber Hoffnung,5Hoffnung aber lässt nicht zuschanden werden.“ Es können eigne Nöte sein, die uns bedrängen oder auch die Nöte anderer Menschen, mit denen wir versuchen geduldig umzugehen, an denen wir versuchen uns zu bewähren.
Es ist in unseren Kirchen viel gestritten worden um das Verhältnis von Rechtfertigung und Heiligung. Die Heiligung gehört zu einem Christenleben dazu wie das Amen in der Kirche, wie Früchte an einen Baum. Aber auch die Heiligung, also unser soziales unser politisches oder unser diakonisches Engagement ist ebenso wie unser Glaube gewirkt und geschenkt durch den Heiligen Geist.
Im diesem Jahr des Reformationsgedenkens wird viel über Freiheit geredet. Lasst uns nicht vergessen, dass aus der Freiheit der Kinder Gottes der Dienst fließt. Freiheit und Dienst gehören zusammen.
Liebe Gemeinde, noch einmal zurück in die Hansestadt Lemgo. Als der Ratsdiener ausrief „Herr Bürgermeister, sie singen alle.“ rief der Bürgermeister Flörke entsetzt: „Ei, alles verloren!“ und trat zurück.
Ich trete jetzt auch zurück – von dieser Kanzel, weil in der Kantorei singen gleich alle. Mein Ausruf lautet aber anders:„Ei, alles gewonnen!“ denn, wir haben Frieden mit Gott durch unsern Herrn Jesus Christus!“

Amen.

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Predigt von Bischof Voigt vom 15.07.17 in der Gnadenkirche Wiesentheid
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