Die Schlagworte können gar nicht drastisch genug ausfallen: „Ungeheuerliche Eingriffe in die Religionsfreiheit!“ „Die staatlichen Zwangsmaßnahmen greifen die christliche Kirche in ihrem Wesen an!“ „Eine geistliche Katastrophe!“
Mit rhetorischen Fragen wird der Staat kritisiert: „Warum sind Getränkemärkte (Alkohol!) geöffnet, Gotteshäuser (Gebet!) geschlossen?“, oder auch die Geistlichen: „Wo ist der Protest, wo ist der Aufschrei der Seelsorger, der Hirten, der Priester und Pfarrer, die danach drängen, ihren Schäfchen gerade jetzt beizustehen?“
Wer sich als Pfarrer für die behördlichen Maßnahmen zur Eindämmung der Corona-Pandemie ausspricht, bekommt gleich die ganz große Keule ab: „Staatshörigkeit“ wird ihm vorgeworfen, „Feigheit“ oder „Vernachlässigung“ seiner geistlichen Aufgaben. Und das sind nur die Kommentare, die zur Veröffentlichung bestimmt sind. In vielen internen Begleitschreiben stehen noch heftigere Anschuldigungen. Der Kollege Gerhard Bauer aber nimmt auch in idea kein Blatt vor den Mund, wenn er gleich den Teufel herbeizitiert, weil Gottesdienste in der Kirche nicht stattfinden dürfen. Aber, so stellt er konfessorisch fest: „Die Sache Jesu geht weiter, und die Wahrheit wird ans Licht kommen.“
Nun – obwohl ich in den Augen des Amtsbruders wohl das Werk Satans tue, weil ich mich widerstandslos an die staatlichen Auflagen halte – unterschreibe ich den letzten Satz voll und ganz! Ja, die Sache Jesu geht weiter – und sie geht nicht nur weiter, sie verbreitet sich in diesen Zeiten schneller als zuvor.
Ich möchte an dieser Stelle keine Grundrechtsdebatte führen – ich bin kein Jurist, auch keine Diskussion über epidemologische Fragen – ich bin kein Arzt, es geht mir um Theologie – denn das ist mein Gebiet und um die pastorale Praxis –denn ich bin Gemeindepfarrer. Und ich sehe es gerade deshalb als meine Pflicht an, meine Stimme zu Gehör zu bringen, weil viele derjenigen, die mit besonders scharfen Meinungsäußerungen hervortreten, geschätzte Kollegen, liebe Freunde, bewährte Mitstreiter im Glauben sind.
Warum sehe ich das Wesen der Kirche nicht in Gefahr, wenn eine zeitlich befristete Kontaktbeschränkung dazu führt, dass keine Gemeindegottesdienste in Kirchengebäuden stattfinden? Zunächst: Die Kirche ist ihrem Wesen nach keine menschliche Vereinigung zum Vollzug eines bestimmten Kultus – die Kirche ist Leib Christi. Nach ihm, ihrem Haupt, dem Kyrios Christos ist sie genannt (Kyriakä) – sie lebt von seiner Verheißung und folgt seiner Weisung. Die Weisung Jesu lautet, alle Völker zu seinen Jüngern zu machen – seine Verheißung: Ich bin bei euch alle Tage! Ist die Kirche eingeschränkt in dieser ihrer Mission, weil die Versammlungsfreiheit im Gottesdienstraum beschnitten wurde? Die Antwort ist: Nein! Die Kirche hat heute eine Vielzahl von Verkündigungsmöglichkeiten: Durch die Verteilung von gedruckten Schriften, durch Nutzung aller Arten von modernen Medien, durch Gottesdienstübertragungen, Telefonseelsorge etc. Während in Deutschland 2-3% der Kirchenmitglieder den Gottesdienst besuchen, sind derzeit viele Menschen im Homeoffice, andere sind mit beschränkter Stundenzahl an ihren Arbeitsplätzen tätig, verbringen aber deutlich mehr Zeit als sonst daheim, wieder andere sind ans Haus gebunden, weil sie keine andere Form der Kinderbetreuung organisieren können oder pflegebedürftige Menschen betreuen müssen, noch andere sind in Quarantäne oder sogar erkrankt bettlägerig. Eines verbindet sie alle: Sie haben eine Vielzahl von Sorgen! Sie sorgen sich wegen der Krankheit, wegen der Belastung ihrer Kinder, wegen den Einbrüchen im Familieneinkommen, kurz: wegen der Gegenwart und wegen der Zukunft. Diese Menschen haben Fragen – und die Kirche hat Antworten. Nicht platte Phrasen, nicht empathielose Motivationssprüche, nicht fromme Richtigkeiten – sondern das Evangelium von Jesus Christus, dem Getöteten und Auferstandenen. Diese Botschaft ist immer die beste der Welt – aber in den westlichen Industrienationen (zuletzt auch einschließlich der USA), wurde sie zunehmend als unattraktiv und fern der eigenen Realität erlebt. In Corona-Zeiten dürsten viele Menschen nach dem, was im Leben und im Sterben Trost und Halt gibt – und sie sind deshalb offen für das Evangelium, das gerade von DEM Zeugnis ablegt, der diesen Trost und diesen Halt schenken kann. Menschen, die den Weg in die Gemeinde unter normalen Umständen nicht finden würden, ließen die Gemeinde nun ins Haus – wenn, ja wenn sie denn mit Angeboten kommen würde. Livestreams und sonstige Übertragungen von Gottesdiensten – wie technisch mangelhaft auch immer – werden von Leuten geschaut, die noch niemand im Gotteshaus gesehen hat. Ausgeteilte Gebetshefte fliegen zur Zeit nicht sofort ins Altpapier, manch einer, bei dem man es gar nicht glauben würde, liest darin, vielleicht spricht er sogar das erste Vaterunser seit Jahren – fremd und doch vertraut. Andachten, die auf Homepages eingestellt oder per E-Mail verteilt werden, sind nachgefragt. Kreative Ideen aller Art finden Anklang, österliche „Carepakete“ mit Ostergruß, -kerze, -ei etc. wurden sehr gerne angenommen. Nie in meiner Lebenszeit hatte Kirche solch vielfältige Möglichkeiten, Menschen dort zu erreichen, wo sie sind – und das ist bei der absoluten Mehrzahl der Deutschen gerade: zu Hause! Hier hat die Kirche die Aufgabe zu erfüllen, die ihr von Jesus Christus, dem Kyrios, selbst übertragen wurde! Er spricht den Menschen, die mit ihren Sorgen – buchstäblich – alleingelassen sind, die tröstlichen Worte zu: Ich bin bei euch alle Tage!
Statt die einzigartigen Möglichkeiten in dieser außergewöhnlichen Lage zu nutzen, liefern sich manche Theologen aber lieber einen Ideenwettbewerb, wie man diejenigen am besten verurteilen kann, die genau das versuchen. Sie werden attackiert, weil sie ihrer verunsicherten Gemeinde am Wort dienen, statt Petitionen zu (unter-)schreiben, Verfassungsklagen zu führen, tränen- oder empörungsreiche Pressekommentare abzugeben. Alles was kommt, hat die gleiche Stoßrichtung: Die Kirche geht unter, wenn nicht aus Prinzip in den Gotteshäusern Gemeindegottesdienste stattfinden – die nur kaum ein Mensch besuchen würde. Denn hierin liegt die Ironie, um nicht zu sagen, der Irrwitz der Argumentation: Von den 2-3% regelmäßiger Kirchgänger gehört ein erheblicher Prozentsatz zur Risikogruppe und würde nicht kommen! Statt – um einmal eine Hausnummer aus meinem Umfeld zu verwenden – 25% der Dorfbewohner mit mindestens einem kirchlichen Angebot daheim zu erreichen (und sei es nur dadurch, dass sie die von der Gemeinde geschenkte Osterkerze anzünden und ein mit ausgegebenes Gebet lesen), wird behauptet, dass die Kirche ihrem Auftrag untreu wird, wenn sie nicht für weit weniger als 1% der Gemeindeglieder einen Gottesdienst in der Kirche abhält. Denn wir dürfen uns nichts vormachen: In die Gemeindegottesdienste käme maximal ein Drittel, eher ein Viertel der allsonntäglichen Kirchgänger – denn auch Christen haben berechtigte Angst vor Covid19. Als Pfarrfamilie, die wegen Erkrankung unter Quarantäne stand, haben wir sogar die Erfahrung gemacht, dass die Kirche nicht zum Gebet aufgesucht wurde, solange wir nicht als geheilt galten. Warum? Weil alle im Ort wussten, dass nur ein infiziertes Familienmitglied die Kirche aufschließen konnte; und trotz der Verwendung von Handschuhen und Atemschutzmaske zum Öffnen, anschließender gründlicher Desinfektion von Schloss, Schlüssel und Türknauf und obwohl die Kirchentür den ganzen Tag über offenstand, damit zum Betreten keinerlei Berührung erfolgen musste – blieben die Gemeindeglieder aus Sorge fern. Wer möchte sie dafür verurteilen? Ich zumindest nicht!
Besonders nachdem auch der hochgeschätzte Ruhestandspfarrer im Ort und seine liebe Ehefrau lebensgefährlich an Covid19 erkrankt waren, wobei nicht ausgeschlossen werden kann, dass die Ansteckung beim Gottesdienstbesuch erfolgt ist, war jedem in der Gemeinde klar: Corona ist eine schwere Krankheit – und kein Vorwand der Regierung, um in Deutschland die Religionsfreiheit abzuschaffen.
Auch andere Argumente derer, die die Bereitschaft anprangern, mit der Kollegen die Gottesdienste in der Kirche abgesagt haben, muten eigenartig an: Da können wir etwa zwischen den Zeilen die Ansicht lesen, dass Verkündigung des Evangeliums nur das ist, was in der Kirche erfolgt. Nun: Missionarische Verkündigung hat NIEMALS in einem Kirchengebäude angefangen, der Bau eines Gottesdienstgebäudes folgte vielmehr dann, wenn sich bereits eine Gemeinde gesammelt hatte. In den ersten Jahrhunderten der Kirche gab es gar keine „Bethäuser“, in vielen Ländern bis heute nicht. Aber es gab und gibt lebendige Gemeinde – während heute in Deutschland Kirchengebäude umgewidmet werden, weil es keine Gemeinde mehr gibt, die in ihr zusammen kommt!
Da wird auch gerne darauf verwiesen, dass im Gemeindegottesdienst die weltweite Gemeinschaft der Christen erfahrbar wäre. Nun ist die Weltkirche und die Ökumene mir persönlich ein ganz besonderes Herzensanliegen. In den zurückliegenden Jahren haben in meinen Kirchengemeinden Bischöfe und Pfarrer aus Ägypten, Indien, dem Kongo, Lettland, Rumänien, der Schweiz, Tansania und den USA gepredigt. Wir haben Gottesdienst gefeiert mit altlutherischen, anglikanischen, freikirchlichen, koptischen, orthodoxen, reformierten etc. Glaubensgeschwistern. In unseren Gottesdiensten ist die Weltkirche in den Fürbitten immer im Blick! Aber müssen wir im Kirchengebäude zusammenkommen, um in die christliche Weltgemeinschaft einzutreten? Nein! Wenn ich nicht im Alltag in der una sancta catholica et apostolica ecclesia lebe, dann erfahre ich sie auch am Sonntag im Gottesdienst nicht – wenn ich mit den Geschwistern an allen Enden der Welt nicht im Geist eins bin und mich mit ihnen in der Anbetung des Dreieinigen Gottes verbinde (und sei es vor dem zu Bett gehen), dann bin ich es auch in der Kirche nicht. Meine Erfahrung mit Weltkirche in Corona-Zeiten lässt sich so wiedergeben: Es war für mich ein ungeheurer Trost, dass ich wusste: In Afrika, Amerika, Asien und Europa bitten Geschwister aus den unterschiedlichsten Konfessionen den Herrn Jesus Christus um Heilung für unsere Familie. Mehr christliche Weltgemeinschaft, als wir so erfahren haben, findet man in einer schlecht besuchten Kirche wohl kaum.
Um zum Schluss nur noch das Argument aufzugreifen ‚Der Gottesdienst wird so von den Verantwortlichen als „Schönwetterveranstaltung“ eingestuft, die auch entfallen kann‘. Gewiss gibt es Gemeindeleitungen, die so denken – aber die denken auch ohne Corona so! Nein: Gerade all die, für die der Gottesdienst nicht entfallen kann, sondern zeitweise in veränderter Form stattfinden muss, zeigen: Es ist keine Schönwetterveranstaltung! Sie arbeiten angesichts dieser besonderen Situation sieben Tage in der Woche von früh bis spät und oft bis in die Nacht hinein, um ihren Gemeinden in verschiedensten Formen das Material für Hausgottesdienste an die Hand zu liefern und ihnen aus Gottes Wort Zuspruch und Wegleitung zu geben. Wer zuvor in Gefahr sein mochte, den G1-Gottesdienst routiniert, aber gedankenlos „abzufeiern“, steht heute vor einer Aufgabe, die ihn zwingt, neu darüber nachzudenken, was Gottesdienst und Verkündigung ausmacht und dafür Formen zu finden.
Wer meiner Gegenargumentation bis hierher gefolgt ist, der könnte meinen: Ich will eigentlich nie mehr zurück in meine Kirche und genieße den Zustand so, wie er ist. Ganz im Gegenteil! Ich liebe Kirchenraum, festliche Gottesdienstgestaltung, Orgel- und Posaunenklang, Chor- und Gemeindegesang, die Kanzel, die meiner Art zu Predigen entgegenkommt und den Altar, an dem ich in Albe und Stola die Liturgie singe – hier bin ICH daheim! Aber das Wort Gottes ist (an keinen Ort) gebunden, der Geist Gottes weht, wo er will und Christus ist mit seinem Volk unterwegs. Und die Corona-Krise stellt MICH in Frage: Habe ich mein Wirken vielleicht zu sehr auf den Raum abgestellt, in dem ICH zuhause bin – eben auf die Kirche? In dem Gott aber nie zuhause war, den aller Himmel Himmel nicht zu fassen vermögen! Er hat mich gezwungen, außerhalb des Gotteshauses sein Zeuge zu sein – und ich merke: Das Wort Gottes kehrt nicht leer zurück – gerade jetzt nicht!
Die Frage lautet darum aus meiner Sicht: Was können wir von dem, was uns diese Zeit in Sachen Gottesdienst und Verkündigung gelehrt hat, beibehalten, verbessern, ausbauen, wenn wir wieder in unseren Gebäuden und traditionellen Formen Gottesdienst feiern können? (Ich schreibe bewusst nicht „dürfen“, denn es geht mir weniger um eine amtliche Erlaubnis, als um eine medizinisch verantwortbare Form – schließlich ist die Pandemie noch lange nicht im Griff!)
Zusammenfassend:
- Es geht heute nicht darum, unsere Religionsfreiheit zu verteidigen, sondern sie zu nutzen, um das Evangelium auszubreiten!
- Gottesdienste finden statt: Wenn auch nicht in der Kirche, so doch in der Gemeinde!
- Das Wort Gottes wird den Menschen durch den Geist Gottes ins Herz geschrieben ubi et quando visum est deo (wo und wann es Gott gefällt) – nicht nur im Gotteshaus.
- Die Kirche ist universal – weil ihr Herr Gewalt hat im Himmel und auf Erden und Menschen aller Kulturen, Sprachen, Hautfarben etc. zu sich zieht. Sie hat sich das nicht selbst ausgesucht – sie ist es! Diese Katholizität der Kirche kann immer und überall geglaubt werden – denn zunächst und vor allem ist sie eine geglaubte Wirklichkeit. Und auch die Erfahrung der Weltkirche ist nicht an die festen Mauern eines bestimmten Gebäudes gebunden – sondern an die grenzenlose Verbindung mit Mitchristen in verschiedenen Teilen der Welt, was uns durch die neuen Medien sehr erleichtert wird.
Die Sache Jesu geht weiter – das dürfen wir gerade erfahren!